Quellendeutung

"Quid est veritas?"

Die Interpretation von ur- und frühgeschichtlichen Quellen wirft ein Problem auf, das nicht zu unterschätzen ist. Da Prähistoriker generell über keine Schriftzeugnisse, sondern über materielle Hinterlassenschaften verfügen, kann es ihnen schwer fallen, ein Fundstück bzw. einen Befund zu deuten. Archäologen finden die Köpfe der Menschen aber nicht ihre Gedanken, also die immateriellen Dinge. Die fundamentale Verbindung von dem Materiellen zum Immateriellen ist damit verloren gegangen. Das heißt, dass Forscher dazu in der Lage sind, Objekte zu bergen und sie zu beschreiben etc. aber die ursprüngliche Stellung und Bedeutung der Objekte innerhalb der prähistorischen Gesellschaft können sie sich nicht herleiten.

Jeder Gegenstand besitzt eine Funktion, die in den meisten Fällen relativ einfach bestimmt werden kann. Darüber hinaus verrät ein Gegenstand etwas über seinen Besitzer. Er kann beispielsweise darüber Auskunft geben, welche soziale oder politische Stellung sein Besitzer innerhalb der Gemeinschaft hatte, dadurch dass er mit bestimmten Mustern verziert oder mit ausgesuchten Farben bemalt wurde etc. Wenn prähistorische Menschen diesen Gegenstand sahen, wussten sie sofort, was damit gemeint war und wer der Besitzer war, bzw. welche Rolle er in seiner Gruppe hatte. Diese soziokulturellen Assoziationen wurden uns jedoch nicht bis heute überliefert.

An den Archäologen liegt es nun, nach Methoden zu suchen, die es ermöglichen, Antworten darauf zu geben, wie diese Stellung der Objekte innerhalb der ehemaligen Gesellschaften ausgesehen haben könnte. Dabei sollte man sich stets darüber im Klaren sein, dass jede noch so plausible Erklärung lediglich eine Eventualität darstellt und keine endgültige Wahrheit ist. Die prähistorische Vergangenheit kann nicht „wiederhergestellt“ werden, es gibt nur interpretatorische Annährerungen ohne Wahrheitsanspruch.

Analogie in der Archäologie

Hier kann die Verbindung vom Immateriellem zum Materiellem nur auf einem indirekten Weg „hergestellt“ werden: durch sogenannte Analogien. Dieser Begriff geht auf das griechische „Aná lógon“ zurück steht wörtlich für Sinngemäßheit. In der Archäologie bedeutet dies die Erkenntnis durch Ähnlichkeit oder durch den Vergleich von Merkmalen. Ein Beispiel soll dieses Verfahren verdeutlichen. Bereits in der Frühzeit entdeckten Menschen prähistorische Artefakte wie etwa Beile oder Pfeilspitzen aus Stein, konnten diese aber nicht richtig deuten. Als jedoch einige Gelehrte in der „neuen Welt“ (Nordamerika) auf Indianer trafen, welche ähnliche Werkzeuge noch tatsächlich verwendeten, war die Verbindung vom Materiellen (Steinwerkzeuge) zum Immateriellen (Verwendungszusammenhang) wiederhergestellt. Die Gelehrten konnten nun die prähistorischen Artefakte aufgrund eines Analogieschlusses, der auf der Ähnlichkeit der Wergzeuge beruhte, deuten und in einen konkreten Kontext einordnen. Der Schluss von einem Teil auf das Ganze war zumindest in dieser Frage erfolgreich umgesetzt worden.

 

Der dänische Prähistoriker Sophus Müller bediente sich ebenfalls einer Analogie als er zu klären versuchte, warum in der Vorzeit Tote verbrannt wurden. Bei Beobachten nordamerikanischer Indianer stellte er fest, dass diese ihre Toten verbrannten, um die Seele vom Körper zu befreien und übertrug diese Deutungsvariante auf die Vorzeit. Ob er damit richtig lag, wird man natürlich nie endgültig sagen können aber durch die Analogie schuf er eine mögliche Interpretation der Brandgräber.      

 

Das Prinzip des analogischen Deutens beruht noch heute auf dem Vergleich zwei gleichartiger Erscheinungen bei Kulturen, die weder inhaltlich, räumlich noch zeitlich übereinstimmen oder in einer sonstigen Verbindung zueinander stehen müssen - sie müssen also nicht „homolog“ sein. Werden zwei Phänome gleichen Ursprungs, aus dergleichen Zeit und demselben Raum miteinander verglichen, handelt es sich also um eine Homologie.

 

Wichtig ist bei dem Vergleich allein, dass die zu Rate gezogene Kultur durch eine wesentlich bessere Quellenlage belegt ist. Analogien können also sowohl im räumlichen wie auch im zeitlichen Sinne synchron/diachron sein und auf un/zeitlichgleichen wie außer/regionalen Vergleichen beruhen.

 

Wer mit ihnen arbeitet, muss sich allerdings stets darüber bewusst sein, dass sie nur Hinweise und Denkanstöße zu geben vermögen. Eine Analogie hat nicht den Anspruch, ein vergangenes Phänomen im wahrsten Sinne des Wortes "rekonstruieren" zu können, sondern vielmehr das Ziel, den Horizont des Archäologen zu erweitern.

Analogien in der Forschungsgeschichte

Wie bereits gezeigt wurde, ist die Anwendung von Analogien in der Archäologie bereits im 19. Jahrhundert angewendet worden. In der damaligen Zeit gingen Prähistoriker jedoch gerade davon aus, damit die Urgeschichte exakt rekonstruieren zu können.

Sie gingen anschließend noch einen (bedenklichen) Schritt weiter, indem sie anfingen, die vermeintlich rekonstruierte Vergangenheit dazu zu nutzen, um lebende Gesellschaften in eine Art kulturelle Entwicklungshierarchie einzuordnen. Diese evolutionistische Denkweise, dass sich alles vom Primitiven zum Komplexen entwickelt, ist typisch für des 19. Jahrhundert. An der Spitze dieser kulturellen Entwicklung standen "selbstverständlich" die weißen gebildeten Europäer selbst. Ein zusätzliches Fundament dieser fatalen Vorstellung war der Rassismus. Man war sich sicher, unterschiedliche Völker in Rassen einteilen zu können und eben diesen in der kulturellen Entwicklungshierarchie einen Rang zuweisen zu können. In diesem Zusammenhang wurden häufig bei Vergleichen Begriffe wie "besser" oder "schlechter" entwickelt verwendet. Letztlich war man sich sicher, australische Ureinwohner wie die Aborigines einer paläolithischen Stufe zuordnen zu können und zog daraus den Schluss, dass diese Menschen "schlechter und primitiver" als Europäer seien etc. Ein Beispiel für diese Pseudowissenschaftlichkeit ist Sollas "Ancient Hunters and Their Modern representatives" aus dem Jahr 1911.

Die Analogie, die dieser Argumentation zugrunde lag, beruhte nur auf der Beobachtung, dass die Werkzeuge der Aborigines denen des Paläolithikum ähnlich waren. Steinwerkzeuge wurden als "primitiv" empfunden und daher ganz unten in der menschlichen Entwicklung eingestuft und mit ebenfalls "primitiv" denkenden Menschen assoziiert. Wer jedoch versucht, "mal eben" eine Blattspitze, eine Klinge oder einen Faustkeil zu schlagen, der wird erkennen, dass das alles anderes als primitiv ist.

 

Heutige Gesellschaften können aber nicht im Paläolithikum leben, weil das Paläolithikum schlichtweg vorbei ist. Die Zeit, die wir als Paläolithikum bezeichnen, hat vor mehreren Tausend Jahr ein Ende gefunden. Ferner werden Gesellschaften nicht mehr kulturhistorischen Stadien zugeordnet. Heute sprechen wir nicht mehr von "mehr- oder minderwertigen" Menschen und tun gut daran, dies auch nie wieder zu machen.

Ethnoarchäologie

Es gibt natürlich weitere Wege und Verfahren, um die „nebulöse“ Vergangenheit besser verstehen zu können. Die Ethnoarchäologie ergänzt die Analogieschlüsse in der Archäologie ungemein. Sie untersucht den Stellenwert und die Funktion materieller Kulturen in expliziten Lebenszusammenhängen. Dies geschieht sowohl durch Feldforschung als auch durch Literaturstudien aus archäologischer Sicht. So kann es dazu kommen, dass ein Archäologe mehrere Monate oder gar Jahre bei "Eskimos" in der Arktis wohnt und dort den Alltag beobachtet. Die Ergebnisse der Ethnoarchäologen ermöglichen systematische und effektive Analogieschlüsse.

Experimentelle Archäologie

Neben der Ethnoarchäologie gibt es noch einen alternativen Zugang zur Vergangenheit, der wesentlich mehr praktisch orientiert ist: die Experimentelle Archäologie. Archäologen versuchen hier in kontrolliert durchgeführten Experimenten und Versuchsanordnungen Herstellungsverfahren oder bestimmte Abläufe aus der Urgeschichte nachzuempfinden. Zunächst wird eine Hypothese aufgestellt und eine klare Fragestellung formuliert. Diese wird anhand eines Experiments überprüft.

 

Bei den Experimenten ist es wichtig, dass sie so authentisch durchgeführt werden wie es nur möglich ist, d.h. es dürfen im Prinzip keine Hilfsmittel verwendet werden, die es früher nicht gegeben hat, da dies sonst zu „falschen“ Ergebnissen führen kann. Die einzelnen Versuche werden mehrfach durchgeführt, dabei werden die unterschiedlichen Parameter verändert und die gewonnen Daten für die spätere Auswertung dokumentiert. Dadurch sollen Einsichten zu konkreten urgeschichtlichen Erscheinungen gewonnen werden. Die Experimentalarchäologie ist somit auf die technisch-praktische Seite der Urgeschichte fokussiert und bietet spannende Einblicke in vergangene Technologien.

 

Es muss zwischen zwei Formen von Experimenten unterschieden werden: den statischen und den dynamischen Experimenten. Die ersteren zeichnen sich dadurch aus, dass eine Hypothese zu einem archäologischen Befund formuliert und durch mehrere variable Experimente geprüft wird. Im Anschluss werden die Ergebnisse bewertet, zu einer Synthese zusammengefügt und man schaut, welches der durchgeführten Experimente das Phänomen aus dem archäologischen Befund am ehesten zu erklären vermag.

Das Prinzip des dynamischen Experimentierens dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass man zu einer Beobachtung im archäologischen Befund eine Hypothese formuliert und diese solange modifiziert oder durch neue Hypothesen ersetzt, bis diese Beobachtung erklärt werden kann. Die Ergebnisse der Experimente können die formulierte Hypothese bestätigen bzw. nicht bekräftigen, sodass sie modifiziert oder vollständig aufgegeben werden muss.

 

Inhaltlich lassen sich die Experimente in drei Kategorien einteilen: Grundlagen erforschende Experimente, Experimente zur Rekonstruktion vergangener Prozesse oder Aktivitäten und letztlich Relevanztests von Methoden und Techniken.

 

Grundlagen erforschende Experimente prüfen zum einen chemische oder physikalische Eigenschaften von Materialien wie Flint, Obsidian, Glas, Knochen, Holz etc. Zum anderen befassen sie sich auch mit einfachen Ja-oder-Nein-Fragen wie „Kann man mit diesem Gefäß kochen?“ oder „Ist diese Keramik gemagert?“


Experimente zur Rekonstruktion vergangener Prozesse oder Aktivitäten arbeiten auf vier Ebenen. Die erste untersucht natürliche Einflussfaktoren wie Wind, Eis, Frost, Sonne, Hitze etc und deren Einwirkung auf archäologische Be-/Funde, sie beschäftigt sich also mit Formationsprozessen.

Die zweite erforscht anthropogene, also menschliche Einflussfaktoren. Zu den Fragen gehören beispielsweise „Wie viel Zeit benötigt man für den Bau einer Kreisgrabenanlage?“ oder „Wie schnell nutzt ein Werkzeug unter welchen Bedingungen ab?“ und „Wie wurde ein Gerät XY überhaupt verwendet?“ Dadurch können Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie viele Abschläge beispielsweise bei der Produktion einer Pfeilspitze entstehen und welche Formen dabei charakteristisch sind. Dieses Wissen kann anschließend zur besseren Interpretation von Abschlägen auf Grabungen genutzt werden.

Drittens gibt es in dieser Kategorie Experimente zur Rekonstruktion des menschlichen Verhaltens mit Fragen wie „Kann man einzelne Personen im archäologischen Befund erkennen und wenn ja, wodurch ist dies möglich?“ In der vierten Ebene sind Experimente zur Rekonstruktion von Kulturentwicklungen zu nennen. Es sind die komplexesten bekannten Experimente, die nur durch Computersimulationen durchgeführt werden können und sich zudem auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum beschränken müssen.

 

In der dritten Kategorie werden Fragen wie „Wie hoch kann der Informationsgewinn sein, wenn das Erdreich einer ausgegrabenen Fläche zusätzlich gesiebt wird?“ diskutiert. Es geht hier also um archäologische Methoden und deren Vor- und Nachteile und nicht direkt um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

 

Häufig werden auch die Begriffe Rekonstruktion, „Re-enactment“ und Reproduktion mit der experimentellen Archäologie in Verbindung gebracht. Dabei sollte es eigentlich offensichtlich sein, dass nichts rekonstruiert werden kann. Das Wort „Rekonstruieren“ impliziert, dass ein bekanntes Phänomen in seinen ursprünglichen Zustand versetzt wird und dass man demnach genau weiss, wie dieser auszusehen hat. Das aber stimmt nicht, wir wissen eben nicht wie die Vergangenheit wirklich ausgesehen hat. Durch Experimente und Analogien können wir unseren Horizont erweitern und Möglichkeiten aufzeigen, wie sie gewesen sein kann.

 

Halten wir fest: Experimentelle Archäologie kann in erster Linie technische Verfahren erfassen und nachempfinden. Archäologische Befunde sind in der Regel die Ausgangspunkte für die verschiedenen Fragestellungen und Experimente. Im Zentrum der Experimente steht das Beobachten und der Erkenntnisgewinn aber nicht das Rekonstruieren der Vergangenheit. Generell werden also keine historischen Aussagen getroffen. Experimente können Grundlage für Modelle sein und Wahrscheinlichkeiten für die Vergangenheit aufzeigen, absolute Wahrheiten können nicht gewonnen werden.

Archaeotechnik

Wie auch in der experimentellen Archäologie geht es in der Archaeotechnik um den bereits erwähnten Erkenntnisgewinn. Allerdings wird dieser weniger durch Experimente, sondern eher durch Ausprobieren ohne wissenschaftliche Standards erzielt. Man könnte Archaeotechnik in diesem Sinne als eine „Light-Version“ von experimenteller Archäologie bezeichnen. Weitere Inhalte sind Angebote wie etwa die Herstellung von Repliken und die Vorführung nachempfundener Handwerkstechniken vor einem breiten Publikum sowie museumspädagogische Aufgaben. Grundsätzlich legen Archaeotechniker großen Wert darauf, dass authentische Materialien verwendet und die altertümlichen Techniken gezeigt werden.

Die Grundlage für das Ausprobieren sind archäologische Befunde. Aber auch Erkenntnisse der experimentellen Archäologie dienen als Basis der Archaeotechnik.

Living History

Die sogenannte Living history besitzt in Amerika und England bereits eine längere Tradition in der Museumspädagogik und feste Berufe, während sie in Deutschland noch als neu und fremdartig empfunden wird. Feste Berufe gibt es in Deutschland nicht, sondern nur befristete Stellen auf Freelancer-Basis.

 

Die Wissensvermittlung des aktuellen Forschungsstands durch erfahrene „Costumed Interpreters“ ist ein Kernpunkt der Living History. Diese „Costumed Interpreters“ sind mit einem umfangreichen fachlichen Hintergrundwissen und pädagogischen wie auch didaktischen Kompetenzen ausgebildete Museumspädagogen. Sie tragen Kostüme und führen alte Techniken lebendig vor, wobei sie das Publikum mit einbeziehen und Geschichte dadurch lebendig und fassbar machen. Es sollen keine Fakten vermittelt, sondern Kontexte und Bezüge zur Vergangenheit aufgebaut werden. Die Besucher sollen durch allgemeine Anknüpfungspunkte an die Geschichte finden, indem sie selbst Feuer machen und durch  Aha-Erlebnisse Vorurteile vor der „ primitiven“ Vorzeit abbauen.

"Reenactment"

Beim sogenannten „Re-enactment“ handelt es sich um Neuinszenierungen und Nachstellungen von historisch überlieferten Gegebenheiten (z.B. diverse kriegerische Auseinandersetzungen). Dies findet nicht im Rahmen von wissenschaftlichen Experimenten, sondern von größeren Veranstaltungen zur Unterhaltung statt. Es geht mehr um das als „authentisch“ empfundene Nachspielen und Zur-Schau-Stellen als um forschungsorientierte Experimente. Dieses Vorgehen sollte nicht mit der experimentellen Archäologie verwechselt werden.

Beim Reentactment sollen vergangene Epochen einem interessierten Publikum für kurze Zeit lebendig vorgeführt werden. Es hat den Anspruch, wertfrei aber dafür sehr emotional zu sein. Gerade im amerikanischen Raum gibt es eine Vielzahl an Reentactment-Fans, die "wertfrei" in Wehrmachtsuniformen und mit Hakenkreuzfähnchen durch die Wälder streifen und Krieg spielen. In Deutschland ist ein derartiges Reenactment natürlich nicht wertfrei durchführbar und verboten - zum Glück. Allgemein sind, wie man sicherlich gemerkt hat, Schlachtszenen und Kriege besonders beliebt und ziehen ein großes Publikum an. 

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