Kulturgeschichtliche Archäologie

Ausschnitt des Gemäldes "Het gieten van ijzer in blokken " von Herman Heyenbrock (1871-1948), 1890. Quelle: Wikimedia.commons

Archäologie und Evolutionismus im 19. Jahrhundert

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewies Christian Jürgensen Thomsen wissenschaftlich, dass in Europa die Abfolge von Stein-, Bronze und Eisenartefakten eine chronologische Relevanz besitzt. Damit schuf er eine Chronologie, die für alle kommenden Generationen von Archäologen als Ausgangspunkt diente. Die Aufgabe seiner Nachfolger war es nun, dieses System feiner zu untergliedern. Mit der Hilfe stratigraphischer Überlagerungen in französischen Höhlen konnte eine zeitliche Abfolge paläolithischer Kulturen erstellt werden. Gabriel de Mortillet (1821-1898) und Édouard Armand Lartet (1801–1871) waren prägend an der Gliederung des Paläolithikums beteiligt. 

 

Gabriel de Mortillet lies sich bei seiner von Darwins Theorien leiten. Er und John Lubbock (1834-1913) interpretierten die Steinzeit auf der Grundlage des Evolutionismus. Dass John Lubbock von Darwins Theorie beeinflusst war, ist nicht verwunderlich: Er und Darwin wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander. Das betraf nicht nur die Chronologie der Altsteinzeit, sondern auch das Leben und die Mentalität des Menschen. Eine Verbesserung der Lebensumstände sei immer das Ziel menschlichen Handeln gewesen. Das war ihr leitender Gedanke. Sie fügten hinzu, dass unser Verstand von der Altsteinzeit bis in die Moderne zunehmend komplexer geworden sei. Durch eben diesen Wandel des Denkvermögens sei der Mensch dazu in der Lage gewesen, Innovationen zu leisten. Lubbock und de Mortillet gingen von einer Parallelentwicklung auf der geistigen und der kulturellen Ebene aus. D.h. die ersten Menschen verfügten über primitive Werkzeuge und über einen primitiven Verstand. Heutige Menschen hätten einen hoch entwickelten Verstand und seien deswegen zu sehr spezifischen Problemlösungen fähig.In der älteren Steinzeit sei man dagegen nur zu rudimentären Problemlösungen fähig gewesen, man schließlich geistig noch nicht so weit entwickelt.

 

Wurde eine neue paläolithische Werkzeugkultur entdeckt, dann verglichen Archäologen deren Inventar mit bisher bekannten Kulturen. Lagen keine stratigraphischen Beziehungen vor, behalf man sich mit der Theorie des Evolutionismus. Je nachdem, ob die neuen Artefakte „primitiver“ oder „komplexer“ waren, wurden sie in der altsteinzeitlichen Chronologie weiter zu den älteren oder jüngeren Abschnitten eingeordnet. Diese Vergleiche wurden insbesondere dann durchgeführt, wenn es auf einem neuen Fundplatz mit einer neuen Kultur keine Stratigraphien gab, in denen bekannte Kulturen vorhanden waren. Nicht jede Höhle und jeder Abri wurden durchgehend im Paläolithikum aufgesucht.

Beginn des kulturhistorischen Denkens in der Archäologie

John Lubbock war aufgefallen, dass es eine Zeit gab, in der Steinartefakte ausschließlich geschlagen wurden. In der jüngeren Steinzeit habe man dann Steinartefakte nicht nur geschlagen, sondern auch geschliffen. Damit hatte er die Steinzeit in ein Paläo- und ein Neolithikum untergliedert. Eine Neuheit im Neolithikum sei außerdem die Verwendung von Keramik gewesen, also von Gefäßen aus gebranntem Ton. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden viele neolithische Fundplätze entdeckt. Den Archäologen fiel bei der Untersuchung der Keramik auf, dass je nach Fundplatz eine spezifische Verzierung auf den Gefäßen zu sehen war und dass manche keramische Gefäße eine auffällige Form hatten. Keramikfunde wurden deswegen nach ihrem Aussehen und ihrer möglichen Funktion (z.B. Schale), ihrer Verzierung (z.B. Linearbandkeramik) und ihrer Form (z.B. Glockenbecher) geordnet und benannt.

 

Wenn man die Fundplätze kartierte, wurden Verbreitungsgebiete mit den verschiedenen Verzierungen sichtbar. Weil die tatsächliche Anzahl an Fundplätzen zum Beginn des 20. Jahrhunderts noch überschaubar war, glaubte man, zwischen den Verbreitungsgebieten deutliche Grenzen erkennen zu können. Die Interpretationsweise von Verbreitungsgebieten spielte in der kulturhistorischen Archäologie eine wichtige Rolle. Wir wollen uns nun den Ursachen widmen, die für die Entstehung dieser neuen Deutung des Zusammenhanges von Raum und Kultur verantwortlich sind.

 

Betrachten wir die europäische Politik zum Ende des 19. Jahrhunderts, dann erkennen wir einen deutlich ausgeprägten Nationalismus. Die deutsche Politik führte zu den drei Einigungskriegen von 1864 bis 1871. Im Deutsch-Dänischen Krieg ging es darum, die Herzogtümer Schleswig und Holstein in das deutsche Reich einzugliedern. In den folgenden Kriegen gegen Österreich und Frankreich ging es um Gebietsansprüche und eine Sicherung der Vorherrschaft Deutschlands in Europa. Der hiermit verbundene nationalistische Zeitgeist fand seinen Weg in die Archäologie. Hinzu kamen Rassismus und ein Pessimismus gegenüber dem technologischen Fortschritt. Der Einzug dieser drei Elemente in die Archäologie führte schließlich zu einem neuen Kulturbegriff, d.h. zu einer neuen Wahrnehmung materieller Hinterlassenschaften. 

Ein pessimistischer Zeitgeist

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Gustav Friedrich Klemm (1802-1867). Quelle: Wikimedia.commons

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die negativen Folgen der industriellen Revolution erkennbar. Man hatte einen Prozess in Gang gesetzt, der sich nicht mehr stoppen oder umkehren lies. Von der Industrialisierung profitierten insbesondere Fabrikbesitzer und weniger die Arbeiter. Mit den neuen Maschinen konnten massenhaft Waren in guter Qualität produziert und dadurch Gewinne gesteigert werden. Durch den Einsatz von Maschinen sparten Unternehmer Kosten, schließlich konnten so Angestellte ersetzt werden, die sie sonst bezahlen müssten. Die Industrialisierung zog dennoch viele Menschen vom Land in die Städte ("Landflucht"), um dort nach einer Einstellung zu suchen. Hier entstand nun die Situation, dass es mehr Arbeitskräfte vorhanden  als nötig waren. Die steigende Arbeitslosigkeit und Armut der Massen machten sich Fabrikbesitzer gezielt zunutze. Sie konnten die Löhne weiterhin senken. Wenn jemand deswegen kündigte, fand sich schnell ein Arbeitsloser, der sich für "kleines Geld" nicht zu schade war. Wer Arbeit hatte, musste unter harten Bedingungen arbeiten und ständig um seine Arbeitsstelle bangen. Die niedrigen Löhne sorgten dafür, dass man trotz Arbeit arm war und jedes Familienmitglied arbeiten gehen musste, auch Kinder. Arbeitsschutz, Versicherungen oder Sicherheiten gab es zunächst noch nicht. Fabrikangestellte wurden allein auf ihre Arbeitskraft reduziert und ausgenutzt, bis sich ein neuer Ersatz finden lies. Den Ausgangspunkt für diese Verhältnisse bildete der technologische Fortschritt.

 

Im Zuge der Industrialisierung zerfiel bei vielen Intellektuellen der Glaube an das positive im technologischen Fortschritt. Kulturgeschichtliche Archäologen lehnten deswegen eine evolutionistische Sichtweise auf die Vergangenheit wie sie von Gabriel de Mortillet vertreten wurde, ab. Menschen seien von sich aus nicht innovativ und würden es auch nicht sein wollen. Kultur sei ein daher statisches Gebilde, das allein durch zufällige Entdeckungen verändert wird. Als Beweis für die Korrektheit dieser Behauptung wurden die sogenannten Naturvölker herangezogen, die man im Gegensatz zu Kulturvölkern wie den Europäern als passiv ansah. Diese Unterscheidung geht auf den Kulturhistoriker Gustav Friedrich Klemm (1802-1867) zurück.

Partikularismus, "Lebensräume" und "Kulturkreise"

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Friedrich Ratzel (1844-1904). Bundesarchiv, Bild 183-R35179 / CC-BY-SA 3.0

Kehren wir zur räumlichen Ausbreitung von Kulturen zurück. Wenn man sich die Verbreitungskarten mit ihren deutlich gezogenen Grenzen zwischen Kulturen vorstellt, wird man sich an eine moderne politische Länderkarte erinnern, in der Staaten voneinander abgegrenzt werden. Genau diese Vorstellung liegt dem Kulturkonzept dieser Zeit auch zugrunde. Kulturhistorische Archäologie ist vor dem Hintergrund des Nationalismus und Rassismus im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu sehen. Bis 1945 wurden archäologische Forschungen zu politischen Zwecken herangezogen. Archäologie war ein Instrument, mit dem politische Interessen verfolgt wurden. Waren die Fragestellungen und Arbeiten von Archäologen nicht verwertbar, wurden sie nicht gefördert. Das eigene „Volk“ sollte im archäologischen Material sichtbar werden, so dass man dessen Größe betonen konnte. Beispielsweise suchten Archäologen während des Nationalsozialismus den Ursprung der Deutschen bei den Germanen. „Gebietsansprüche“ gegenüber anderen Staaten wurden dadurch geltend gemacht, indem man sich von einer archäologischen Kultur ableitete und deren Verbreitungsgebiet für die Jetztzeit beanspruchte.

 

Während nach Innen Gemeinsamkeit geschaffen werden sollte, wurden nach Außen zu anderen Ländern die Unterschiede betont. Dasselbe geschah dementsprechend in der Archäologie und um diese Ziele zu erreichen, wurden archäologische Kulturen mit Ethnien und biologischen Einheiten („Rassen“) gleichgesetzt. Nach dem kulturhistorischen Verständnis von materieller Kultur würden sich Menschen und deren Vorstellungswelten in Formen und Verzierungen immer manifestieren, nach dem Motto: „Zeig mir deine Keramik und ich weiss, wer Du bist!“ Gustaf Kossinna (1858-1931) versuchte auf diese Weise den Ursprung der Germanen zu erforschen und die Frage nach der Herkunft der Indogermanen zu lösen. Angeblich stammen letztere aus Schleswig-Holstein.

 

Diesen Blickwinkel, in dem jede archäologische Kultur für sich steht und gegenüber anderen scharf abgegrenzt wird, bezeichnet man als Partikularismus. Dieser Gedanke wurde insbesondere von den Ethnologen Friedrich Ratzel (1844-1904) und Franz Boas (1858-1942) vertreten. Ratzel führte den Ausdruck „Lebensraum“ ein, der später zu einem beliebten Schlagwort in der nationalsozialistischen Propaganda wurde. Die bekannteste Verwendung finden wir in der Forderung nach „Lebensraum im Osten“. Der katholische Priester, Geograph und Ethnologe Robert Fritz Graebner (1877-1934) bereichte dieses Gedankengut, indem er ihm den Terminus „Kulturkreis“ hinzufügte. Bei Kossinna stoßen wir häufig auf den Begriff "Kulturprovinzen", der prinzipiell dasselbe meint.

Definition archäologischer Kulturen

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Alfred Schliz (1849-1915), Entdecker der Großgartacher Kultur. Quelle: Wikimedia.commons
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Joseph Déchelette (1862-1914) auf einem Gemälde von Albert Dawant (1852–1923). Quelle: Wikimedia.commons

 Jeder „Kulturkreis“ wurde durch eine Kombination an materiellen Hinterlassenschaften definiert, die auf den Fundplätzen konstant miteinander in Erscheinung traten. Diese für ein Gebiet typischen Artefakte werden Leitformen genannt. Dazu gehörten Formen und Verzierungen sowie Werkzeugtypen und Bestattungssitten: Zum Beispiel Grabformen und der Unterschied zwischen Leichenbrand- und Körpergräbern. Als man später in der Lage war, mittels der „Pfostenlöcher“ Gebäudegrundrisse zu erkennen, wurden Hausformen ebenfalls in diesem Schema berücksichtigt. Die Verbreitungsgebiete wurden anschließend als Kulturen bezeichnet. Die zwei bekanntesten Definitionen von Kultur aus der kulturgeschichtlichen Archäologie stammen von Gustaf Kossinna und Vere Gordon Childe. Beide bringen die Fokussierung auf materielle Hinterlassenschaften und die Verknüpfung von Menschengruppen und Räumen wunderbar zum Ausdruck.

  • Vere Gordon Childe definierte Kultur wie folgt: "We find certain types of remains – pots, implements, ornaments, burial rites and house forms – constantly recurring together. Such a complex of associated traits we shall term a "cultural group" or just a "culture". We assume that such a complex is the material expression of what today would be called a "people". (Childe 1929: v-vi)
  • Gustaf Kossinna definierte Kulturen als "scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen", die sich "zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Volkerstämmen" decken würden (Kossinna 1920).

 

Die Namen erhielten die jeweiligen Kulturen durch ihre auffälligen Verzierungsmuster wie etwa die linearbandkeramische Kultur, die schnurkeramische Kultur, die stichbandkeramische Kultur. Markante Gefäßformen gaben der Glockenbecher-Kultur oder der Trichterbecher-Kultur ihren Namen. Alternativ wurden Kulturen nach dem Ort benannt, an dem sie zum ersten Mal gefunden und erkannt wurden. Beispiele wären die Rössener Kultur, die nach dem Gräberfeld von Rössen (Sachsen-Anhalt) benannt wurde oder die Großgartacher Kultur, die ihren Namen von der Ortschaft Großgartach (heute Leingarten) erhalten hat.       

 

Wenn Kulturen auf das Vorhandensein von Funden bzw. Befunden sowie auf ihre räumliche Ausbreitung reduziert werden, können sie in diesem Sinne mühelos in Form einer Tabelle beschrieben werden: Kultur XY definiert sich durch Grabform X, Hausform Z, Verzierung Y und Gefäßform S. Dieses statische Kulturkonzept führte dazu, dass man sich die Ur- und Frühgeschichte als ein Mosaik aus Kulturen vorstellte. Handel und Kulturkontakte wurden von deutschen Archäologen wie Kossinna ausgeschlossen. Er tat diesen Gedanken mit den Worten "[...] Handel und Verkehr wäre ja ohnehin schon für die Vorzeit ein Unding" ab. Das Inventar jeder Kultur sei aus einer eigenen Ideenwelt entsprungen, die sich von derjenigen der anderen Kulturen unterschieden habe. Obwohl man sah, dass sich manche Kulturen über ein ausgesprochen großes Gebiet verbreitet hatten, dachte man nicht daran, diese nach innen hin zu gliedern. Kulturhistorikern ging es stets darum, die Grenzen nach Außen zu anderen Kulturen zu suchen.   

 

In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts wurden viele Handbücher publiziert, in denen man den derzeitigen Erkenntnisstand veröffentlichte. Ein Beispiel für so ein umfangreiches Werk ist das von Albert Grenier und Joseph Déchelette herausgegebene "Manuel d'archéologie gallo-romaine", das "Reallexikon der germanischen Altertumskunde" von Johannes Hoops oder das "Reallexikon der Vorgeschichte" von Max Ebert. Vergleichbare Handbücher wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Karl Josef Narr (Handbuch der Urgeschichte) oder Hermann Müller-Karpe (Handbuch der Vorgeschichte) publiziert.

Kulturhistorische Tabelle zum Paläolithikum

Zotz1929
Übersichts-Tabelle nach Lothar Zotz, Kultur der älteren Steinzeit in Mitteleuropa (Mainz 1929). Neben der kulturgeschichtlichen Ausrichtung hat die Tabelle einen wertenden Charakter, indem sie von einer Zeit des "Aufschwungs", der "Blüte" und des "Verfalls" spricht. Die Terminologie scheint von Oswald Spengler's Werk "Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte" (München 1922-1923) inspiriert zu sein. Hinzu treten abwertende Adjektive wie "entartet", "grob", denen "höchstentwickelt", "besser" sowie "feinster" gegenübergestellt werden.

Methoden zur Erstellung von Chronologien

Im Rahmen kulturgeschichtlicher Forschungen wurden Methoden zur relativen Datierung gefördert, die sich von dem bisher betrieben evolutionistischen Ansatz unterschieden. Hierzu gehörten feinere Vorgehensweisen zur Dokumentation von Stratigraphien, Typologie und Seriation. Mit ihnen sollten Entwicklungen einzelner Kulturen nachvollzogen werden. Zu den bekannten Projekten aus dieser Zeit gehören die „Troja-Stratigraphie“ von Wilhelm Dörpfeld (1853-1940), die Einführung von Planquadraten und Stegen auf Grabungsflächen von General Augustus Lane Fox (1827-1900, ab 1880 Pitt Rivers), Mortimer Wheeler’s (1890-1976) Planquadrate und Stege zum Schichtenbeobachten und seine Forderung, Schichten erst zu zeichnen, nachdem sie gedeutet wurden. Seine Methode erläuterte er ausführlich in dem Buch „Archaeology from the Earth“ aus dem Jahr 1954.

 

Das Aufstellen von Typologien zur Erstellung von Chronologien wurde von Oscar Montelius (1843-1921) betrieben. Sein Standardwerk „Die Methode“  publizierte er 1903. Sir William Matthew Flinders Petrie (1853-1942) führte mit seiner Seriation von keramischen Gefäßen aus 900 dynastischen Gräbern von Diopolis Parva, Naqada, Ballas und Abadiyeh eine neue Methode zur relativen Datierung von Objekten in die Archäologie ein. Besonders lesenswert ist sein Aufsatz „Sequences in Prehistoric Remains“ aus dem Jahr 1899. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Seriationen per Hand durchgeführt, bis sie schließlich durch die computergestützte Korrespondenzanalyse aus der multivariaten Statistik ersetzt wurde.

Flinders-Petrie
Sir William Matthew Flinders Petrie (1853-1942), Gemälde von Philip Alexius de László. Quelle: Wikimedia.commons
Nordische-Bronzezei
Tafel mit Leitformen aus der Periode I der nordischen Bronzezeit, O. Montelius (1885).

Diffusionismus und Migration

Erfindungen würden nur einmal getätigt und seien danach durch zwei Vorgänge verbreitet worden, das war die Annahme vieler kulturhistorischer Archäologen. Der erste wird als Migration bezeichnet. Damit sind Wanderungen von Personengruppen gemeint. Das Wort leitet sich dem Verb „migrare“ (= wandern) aus dem Lateinischen ab. Weil kulturgeschichtliche Archäologen Menschen mit Töpfen gleichsetzten, glaubten sie an der zu- bzw. abnehmenden Verbreitung von bestimmten Gefäßen oder Verzierungsmustern Wanderungen von „Völkern“ oder „Rassen“ erkennen zu können. Besonders beliebt waren in diesem Zusammenhang die Germanen, Indoeuropäer und bis zum Ende des 2. Weltkrieges auch die Arier. Das Paradebeispiel für eine derartige Argumentation ist bei Kossinna zu finden. Archäologen gingen davon aus, dass Migrationen dazu führen konnten, dass eine Kultur von einer anderen vollkommen ersetzt werden konnte oder dass dies zu Kulturvermischungen führte, aus denen eine neue Kultur hervorging. Die neue Kultur weist demnach Merkmale der Kulturen auf, aus deren Vermischung sie hervorgegangen ist.

Wenn in einer Region zwei Verzierungsstile gefunden wurden, die zeitlich sich nur kurz oder gar nicht überlappten, ging man davon aus, dass die jeweils ältere Kultur von der jüngeren vertrieben wurde oder auswanderte und die jüngere Kultur sich im Anschluss in der Region niederließ. 

 

Die zweite Verbreitungsmöglichkeit für Innovationen wurde mit dem Fachbegriff Diffusion versehen. Dieses Wort geht auf das lateinische „diffundere“ für aus- bzw. verbreiten zurück. Hierbei wandern nicht ganze „Völker“ sondern die Idee der jeweiligen Innovation. D.h. dass herausragende technologische Erfindungen bei Kulturkontakten weitergegeben wurden. Der australisch-britische Archäologe Vere Gordon Childe (1892-1957) argumentierte viel mit Diffusionismus. Insofern ist der Hinweis "Read Vere Gordon Childe on diffusionism!" von Indiana Jones durchaus berechtigt.

Wie Oscar Montelius vertrat dieser die These, dass alle wichtigen Erfindungen wie beispielsweise Ackerbau, Viehzucht und Bronzeherstellung aus dem Vorderen Orient stammen: "The Orient's claim to the origination of all the primary inventions is thus beyond dispute, once the diffusionist postulate be accepted." (Childe 1929: 221)

Zum Ursprung der Bronzetechnologie schrieb er, dass diese durch Handel mit den begehrten Metallobjekten nach Europa gelangt sein könnte. Alternativ hielt er eine Diffusion durch Handwerker für möglich, die sich nach Europa begaben, um dort für die "Barbaren" zu arbeiten bzw. um dort Erze zu suchen und dabei auf Einheimische trafen, denen sie ihr Wissen weitergaben. Er fügte hinzu, dass Bronzehandwerker und Schmiede auch als Sklaven nach Europa verbracht worden sein könnten und man sich ihr Wissen zunutze machte. Andererseits schloss er nicht aus, dass auserwählte Personen in den Orient reisten, um dort mit dem Handwerk vertraut zu werden. Nach Beendigung ihrer "Ausbildung" wären sie in ihre Heimat zurückgekehrt und hätten dort ihre neuen Kenntnisse angewandt. 

 

Diffusionismus impliziert in kulturhistorischer Sicht, dass bei Kontakten zwischen benachbarten Kulturen die neuen Technologien von der einen „überlegenen“ Kultur in die unterentwickelte vermittelt werden. Dahinter steckt die Theorie des Degenerationismus. Abgeleitet von dem lateinischen „degenerare“ bedeutet es degenerieren bzw. zerfallen. Demnach fallen Kulturen binnen kurzer Zeit in einen primitiven Urzustand zurück, sofern sie nicht in ihrer benachbarten Umgebung eine überlegene Kultur haben, an der sie sich orientieren können. Der Eigenantrieb zu Innovationen wurde den „Naturvölkern“ abgesprochen. Je weiter man von einer aktiven Kultur entfernt sei, desto primitiver sei man.

Ex oriente lux

Oscar Montelius gehörte zu denjenigen Archäologen seiner Zeit, die über eine enorme Materialkenntnis zur Ur- und Frühgeschichte Europas und des Vorderen Orients verfügten. Seine Materialstudien brachten in zu der Erkenntnis, dass in prähistorischer Zeit Südosteuropa immer besser entwickelt gewesen sei als Nordwesteuropa. Er folgerte daraus, dass sämtliche innovative Technologien und Ideen im Orient getätigt wurden und von dort aus nach Europa gelangten. Diese Ahnnahme wurde unter dem Schlagwort "ex oriente lux" (das Licht kommt aus dem Osten) bekannt. Die Einwohner Europas selbst seien nicht dazu in der Lage gewesen, unabhängig vom Orient Bronze- oder Eisenverarbeitung zu entwickeln.  

 

Vere Gordon Childe (1892-1957) kombinierte die Theorie von Kossinna, dass archäologische Kulturen mit Völkern identisch seien mit dem Ansatz von Montelius, dass alle Innovationen aus dem Orient kämen. Im Gegensatz zu Kossinna ging er aber davon aus, dass man wegen der häufigen Diffusionen „Völker“ nicht mehr in die Vergangenheit zurückverfolgt werden könne.

Problem der induktiven Schlussfolgerung

David Hume (1711-1776)
David Hume (1711-1776) im Jahr 1754. Quelle: Wikimedia.commons

In kulturhistorischen Arbeiten stoßen wir häufig auf eine besondere Form des Schlussfolgerns. Hierbei wird eine allgemeine These auf der Grundlage der vorhandenen Funde formuliert. Ein Beispiel: Weil ich noch keine Funde gesehen habe, die auf eine Religion bei Neandertalern schließen lassen, gehe ich davon aus, dass diese keine Religion hatten. Diese Art der Schlussfolgerung bezeichnet man als induktiv.

Das Gegenteil wäre eine deduktive Vorgehensweise, bei der zuerst eine These aufgestellt und im Anschluss geprüft  wird. Bei der Induktion von Einzelbeobachtungen stellt sich die Frage, ob man über dieses Verfahren überhaupt zu einem allgemeingültigen Gesetz gelangen kann und wenn ja, wann ist dieser Punkt erreicht? Der schottische Philosoph und Historiker David Hume (1711-1776) hat diese Frage erstmals 1740 formuliert. Ihm zu Ehren wird sie deswegen als Humesches Problem bzw. als Induktionsproblem  bezeichnet. Knapp 200 Jahre nachdem Hume das Induktionsproblem formuliert hatte, kam der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper (1902-1994) zu dem Schluss, dass es generell nicht möglich sei, jemals den Punkt zu erreichen, an dem aus Einzelbeobachtungen eine Allgemeingültigkeit formuliert werden könnte.

Positivismus

In der kulturhistorischen Archäologie arbeiteten Archäologen stets mit Fakten, also tatsächlich vorhandenen Befunden und Funden. Es handelt sich hiermit um eine theoretische Grundhaltung, die ihre gesamte Erkenntnis und Interpretation auf das Vorhandensein von "Befunden" stützt. Positivismus ist typisch für eine induktive Vorgehensweise in der Schlussfolgerung, bezieht sich doch die Induktion allein auf das, was dem Wissenschaftler vorliegt. Interpretationen mit einer positivistischen Basis fallen daher eher zurückhaltend aus. Ihnen wird sogar vorgeworfen, nicht über das Sammeln von Material hinauszukommen. 

Kritik an der kulturgeschichtlichen Archäologie

In den 1960 Jahren kam an dem kulturhistorischen Kulturverständnis Kritik auf. Diese war so heftig und die Forderungen nach einem neuen Verständnis von materieller Kultur derartig abweichend, dass man bald von der Entstehung der "Neuen Archäologie" (New Archaeology) sprach. Neben der offenkundigen politischen Motivation wurde die subjektive Argumentation traditioneller Archäologen kritisiert. Es mussten neue Methoden herangezogen werden, die aus der Archäologie eine empirische, d.h. eine nachvollziehbare Wissenschaft machen.

Auch mit dem Rassismus wollte man nichts mehr zu tun haben. Das Gleichsetzen von Menschen- und Sprachgruppen mit Gefäßverzierungen sowie Gefäßformen wurde nicht weiter praktiziert. Mit dem Partikularismus wurde endlich ein Gedanke zu den Akten gelegt, der nie mehr als eine subjektive Behauptung war. Kulturgeschichtliche Archäologen gingen zwar davon aus, dass es menschliche „Rassen“ gäbe und diese sich in den materiellen Hinterlassenschaften widerspiegeln würden aber bewiesen wurde diese Behauptung nie. Kossinna verwendete den Terminus regelmäßig, ohne diesen überhaupt definiert zu haben.

 

Mit der Abkehr von kulturhistorischen Theorien wurde der Degenerationismus verworfen. Die Vorstellung, dass Menschengruppen in der Peripherie „zurück geblieben“ seien, nur weil sie weit entfernt von einem angeblichen kulturellen Zentrum lebten, ging auf eine politisch-rassistisch motivierte Sichtweise aus der Kolonialzeit zurück. Zudem ist es eine Frage der Sichtweise, wo eigentlich ein kulturelles Zentrum liegt. Europäer sahen sich am Höhepunkt der menschlicher Kultur und Geistigkeit angelangt. Alles im sie herum sei auf einem niederen Entwicklungsstand. Ihre Kolonien in Afrika würden von „Wilden“ bewohnt, die als direkte Nachkommen steinzeitlicher „Völker“ betrachtet wurden. So finden wir etwa in Band 1 des populärwissenschaftlichen Werkes The Book of History von James Bryce folgenden Text: "We must remember that such terms as „The Stone Age“, „The Bronze Age“ and so forth are only loosely applied. The ages so called did not close at certain periods. The are races now living in all the conditions of these past ages." Dazu erscheint ein Foto von Einwohnern aus Papua-Neuguinea mit dem Kommentar „This photograph for example, shows the actual tree dwellings of the Papuans in New Guinea to-day – one of the most primitive forms of human habitation."

Mit Einwohnern der Kolonien glaubte man, tun und lassen zu können wie es einem beliebte, weil es schließlich „Hinterwäldler“ seien, die den soweit fortgeschrittenen Europäern gegenüber keine Ansprüche geltend machen durften. Diese Anschauung war seiner Zeit in der Politik beliebt und wurde bis zum Ende des 2. Weltkrieges von vielen Archäologen vertreten.

 

Kritisch ist zudem, dass menschliche Kreativität auf ein sehr niedriges Niveau runtergebrochen wurde. Es kann nicht von vornherein angenommen werden, dass sämtliche Erfindungen in der Ur- und Frühgeschichte nur einmal zufällig gemacht wurden. Um Kulturen diesen veränderungsresistenten Charakter überstülpen zu können, wurden von Archäologen wie Kossinna interkulturelle Kontakte ausgeschlossen. Wenn man aber nun von davon ausgeht, dass es in der Vergangenheit so gewesen wäre, dann ist es nicht verwunderlich, wenn Diffusion und Migration als einzige zwei Argumente zur Verbreitung von Kulturen herangezogen werden. Andere Möglichkeiten bleiben schließlich nicht mehr übrig. Materielle Kultur wirkt deswegen aus kulturhistorischer Sicht statisch und das macht es so einfach, sie in Tabellenform wiederzugeben.

 

Die New Archaeology sah den Menschen keineswegs als ein rein passives Wesen an, das nur rein zufällig Innovationen erschuf. Mit einer detaillierten Untersuchung der Fundkontexte sollten Nutzungs- und Funktionsweisen von Artefakten herausgearbeitet werden. Die neue Generation von Archäologen war sich sicher, dass der Mensch sein Leben aktiv gestaltet habe, mit Symbolen kommuniziert und sich in einer ständigen Interaktion mit der Umwelt befunden habe.

Verwendete Literatur

Autor Titel Seite
Bernbeck Theorien in der Archäologie (Uni-Taschenbücher S) 35-48
Binford Archaeology as Anthropology. American Antiquity 28, 1962 217‐225
Childe The Danube Thoroughfare and the Beginnings of Civilization in Europe. Antiquity, 1927 79-91
Childe The Most Ancient East 221
Childe The Bronze Age 10
Childe The Dawn of European Civilisation 48-56, 213-229
Déchelette Manuel d'archéologie préhistorique, celtique et gallo-romaine (Paris 1908-1914) -
Ebert Reallexikon der Vorgeschichte, 15 Bände (Berlin 1924-1932) -
Flinders Petrie Sequences in Prehistoric Remains. The Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 29, 3/4, 1899 295-301
Götze Das neolithische Gräberfeld von Rössen und eine neue keramische Gruppe. Zeitschrift für Ethnologie Bd. 32, 1900 237–253
Hoops Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 4 Bände (Straßburg 1911-1919) -
Kossinna Mannus-Bibliothek : N.F. ; Bd. 4 Die Herkunft der Germanen : (zur Methode d. Siedlungsarchäologie) -
Vander Linden/Roberts A Tale of Two Countries: Contrasting Archaeological Culture History in British and French Archaeology. In: Vander Linden - Roberts (eds.), Investigating Archaeological Cultures: Material Culture, Variability, and Transmission 23-40
Montelius Die älteren Kulturperioden im Orient und in Europa I. Die Methode (Stockholm 1903) -
Montelius Om tidsbestämning inom bronsåldern med särskilt avseende på Skandinavie (Stockholm 1885) -
Rebay-Salisbury Thoughts in Circles: "Kulturkreislehre" as ahidden Paradigm in Past and Present Archaeological Interpretations. In: Vander Linden - Roberts (eds), Investigating Archaeological Cultures: Material Culture, Variability, and Transmission 41-60
Schliz Das steinzeitliche Dorf Großgartach, seine Keramik und die spätere Besiedlung der Gegend. Fundberichte. Schwaben 8, 1900 47-59
Trigger A History of Archaeological Thought 121-165, 211-313
Wheeler Archaeology From The Earth -
Zotz Kultur der älteren Steinzeit in Mitteleuropa (Mainz 1929) Übersichts-Tabelle

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