Erwachen in der Steinzeit. Wie wir Menschen wurden

Autor: Hermann Müller-Karpe

Kategorie: Monographien

Verlag: Sankt Ulrich Verlag

Schwierigkeitsgrad: Anfänger

erster Eindruck

Provokant.

 

Beschreibung

In seinem kürzlich veröffentlichten Buch „Erwachen in der Steinzeit. Wie wir Menschen wurden“ (Sankt Ulrich Verlag) setzt sich Hermann Müller-Karpe mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins aus einem geistesgeschichtlichen Blickwinkel auseinander. Diesen Blickwinkel möchte der Autor von jenen rein naturwissenschaftlichen Denkweisen abgegrenzt wissen.

Hermann Müller-Karpes geistesgeschichtlicher Ansatz verbindet den „Wahrheitsgehalt“ der  christlich-abrahamischen Glaubenstradition mit den „Erkenntnisgewinn“ der Evolutionslehre. Es handelt sich hierbei um eine Art Schnittstelle zwischen einer religiösen und einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der älteren Steinzeit. Die geistesgeschichtliche Würdigung des Paläolithikums erkennt an, dass der Mensch inzwischen auf eine sehr lange andauernde Evolution zurückblicken kann bzw. sich auch weiterhin entwickeln wird. Abgelehnt wird jedoch die Annahme, dass sich das menschliche Bewusstsein (als „Geistesbefähigung“ bezeichnet) ebenfalls als ein Produkt der Evolution zu betrachten sei. Der natürliche Ursprung des reflektierenden Bewusstseins sei vielmehr „sui generis“ und nicht auf evolutive Prozesse zurückzuführen.

Die naturalistische Sichtweise auf die Menschwerdung geht davon aus, dass das menschliche Bewusstsein durch dieselben Naturgesetzlichkeiten entstanden ist wie auch die körperliche Gestalt des Menschen. Zu den Gesetzen der Natur gehören bekannterweise Mutation und Selektion (Henke – Rothe 1999; Klein 2009; Schrenk 2003; Wulf 2009).

Nach Müller-Karpe ist Evolution stets auf eine „Optimierung des praktischen Lebens“ ausgerichtet. Die Geistbefähigung des Menschen sei dies aber eben nicht, so lautet die These des Autors. Seine religiöse Geschichtssicht geht von einer Eigenständigkeit und nicht von einer Naturhaftigkeit der menschlichen Geistbefähigung aus. Die religiöse Geschichtsauffassung sieht das menschliche Bewusstsein auf eine „Ganzheitserkenntnis“ und damit auf eine „Gotteserkenntnis“ ausgerichtet. Demnach sei eine Verbesserung der Lebensumstände eher nebensächlicher Natur. Der Kern der Geistbefähigung liegt für ihn nämlich darin, sich selbst als ein Geschöpf des christlich-abrahamischen Gottes zu erkennen. Die rein naturwissenschaftliche Erklärung von Kognition im Altpaläolithikum als Mittel zur Verbesserung des praktischen Lebens sei deswegen „reduktionistisch“ und würde der Geistbefähigung nicht gerecht werden. Weil Müller-Karpe für den Zeitraum des Paläolithikums keine solchen Verbesserungen im Leben der Vormenschen – nach dem Eintreten der Geistbefähigung – identifiziert, zieht er eine religiöse Deutung vor.

Diese Behauptung sollte natürlich nachvollziehbar begründet werden. In diesem Zusammenhang spricht Müller-Karpe auch einige Punkte an, die in der Kognitionsforschung von Bedeutung sind. Dazu gehören fossile Schädel, die Veränderung der Gehirngröße, die Entwicklung und Form von Faustkeilen, Bestattungen, Ritzungen auf Knochen (Bilzingsleben), jungpaläolithische Kunst, Schmuck und artifiziell bearbeitete Schädelkalotten des Homo erectus. Zum letzteren Punkt werden keine konkreten Literaturangaben gemacht. Schließlich wird die Neurophysiologie kurz erwähnt. Allerdings lässt er deren Erkenntnisse und Forschungen ins Leere laufen. Neurophysiologen würden zwar eine Fülle an Detailbeobachtungen hervorbringen, auf deren Grundlage „Vermutungen, Hypothesen und Behauptungen formuliert werden“. Diese ist eine von zahlreichen Passagen in dem Buch, an denen mit Rhetorik von der eigenen „neurophysiologischen Unmusikalität“ des Autors abgelenkt wird.
Das Problem bei der Erörterung von Kognition im Altpaläolithikum von Müller-Karpe ist, dass er zwar interessante Diskussionspunkte erwähnt aber eine kritische Auseinandersetzung überhaupt nicht stattfindet. Für ihn steht von der ersten Seite an nämlich bereits fest, dass es einen Gott und eine altpaläolithische Religiosität gibt – nachvollziehbar begründen kann er das aber nicht.

Gott soll sich im Altpaläolithikum einem Vormenschen offenbart bzw. soll eine Inkarnation stattgefunden haben – vergleichbar mit Jesus Christus. Diese Erleuchtung des Vormenschen habe erst aus hm einen Menschen mit einem reflektierenden Bewusstsein gemacht. Im Gegensatz zu Tieren sei die Umwelt dadurch anders wahrgenommen worden. Man habe diese nicht auf Nutzbarkeit und Gefahren hin geprüft, sondern war bestrebt das große Ganze und die Umwelt als einen Teil dieses Ganzen zu begreifen. Das Resultat und damit der wesentliche Charakter der Urgeistigkeit seien die Erkenntnis, dass Gott der ewige und allmächtige Schöpfer aller Dinge ist. Fortan habe man die Umwelt als sakrosankt wahrgenommen und sei bei allem Tun dem von Gott gegebenem Lebensraum mit Dankbarkeit gegenübergetreten. Religiöse Erkenntnis sei zum Motor für den paläolithischen Menschen geworden und habe ihn einen tiefen beglückenden Seelenfrieden beschert.

Im Altpaläolithikum findet diese Religiosität keinen eindeutigen Niederschlag in den materiellen archäologischen Hinterlassenschaften. Erst die jungpaläolithische Kunst sei ein solcher Ausdruck der Urgeistigkeit gewesen. Die Kunst des gesamten Jungpaläolithikums interpretiert Müller-Karpe dingliche Veräußerung jener Dankbarkeit. Damit schert er sämtliche Kunstformen des Jungpaläolithikums über einen Kamm. Veränderungen und Varianten der Fundzusammenhänge bzw. der künstlerischen Gestaltungsweise bleiben hier völlig unberücksichtigt. Zuweilen spricht er allerdings über mehr bzw. begabter Künstler/innen im Jungpaläolithikum und projiziert dabei ein subjektives Verständnis von schön und nicht unschön in diese Zeit zurück.
Die Kerbreihen auf dem "Adoranten" aus dem Geißenklösterle deutet er als Kalender für religiöse Feste, um Gott zu danken. Auch wenn die materiellen Quellen zur Religiosität im Jungpaläolithikum markant verändern, so soll sich der ursprüngliche Charakter der Religion nicht wesentlich verändert haben.

Eine Veränderung im Umgang mit der religiösen Urgeistigkeit hat es am Ende des Paläolithikums gegeben. Zu bzw. ab diesem Zeitpunkt sei die Natur nicht mehr als sakrosankt wahrgenommen und durch die neue Siedlungsweise des Menschen weniger rücksichtsvoll behandelt worden. Mit der Jungsteinzeit verknüpft Müller-Karpe eine zunehmend von Zweifel geprägte Geisteshaltung. Allerdings sei diese Haltung von Menschen ausgegangen, die grundsätzlich geistig unfähig waren, Gott zu erkennen – sie sind „religiös-unmusikalisch“ gewesen. Diese „religiöse Unmusikalität“ vergleicht der Autor mit „Mangelerscheinungen“ (!), die man einfach hinnehmen müsste. Mitunter wird dies als „Entartung vom Wesenskern“ desrjenigen zweifelnden Person bezeichnet (Seite 117).

 

Fazit

In diesem Buch wird viel behauptet, dagegen bleiben die Argumente für seine Thesen bzw. Argumente gegen alternative Interpretationen zuweilen oberflächlich. Es ist gewollt nicht rein wissenschaftlich geschrieben. Hermann Müller-Karpe verzichtet weitestgehend auf eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Argumenten, dafür arbeitet er auffällig häufig mit Rhetorik zur Verteidigung der geistesgeschichtlichen Deutung des Paläolithikums. Andere Ansichten und Erkenntnisse aus der Forschung, die von seiner Sichtweise abweichen, werden leider ohne ersichtliche Argumente als nicht haltbar dargestellt.

Die von Müller-Karpe verwendete Schriftsprache ist nicht einfach. Viele Sätze sind zu verschachtelt aufgebaut und ungünstig formuliert. Auch behindert die Verwendung von Fremdwörtern wie "katexochen" oder "ontisch" den Lesefluss. Es ist löblich, dass er diese Wörter noch am Leben hält aber er hätte es auch einfacher ausdrücken können.
Es gibt einige inhaltliche Wiederholungen. Beispielsweise wird derjenige Satz, in dem die Wahrnehmungsunterschiede zwischen Menschen und Tieren vorgestellt werden, mindestens drei Mal in beinahe identischer Weise wiederholt. Die Textabschnitte von Seite 46 bis 49 findet man ebenfalls mit sehr wenigen Veränderungen im Satzbau auf den Seiten 135-137 sowie 139 und 140 wieder. Der Text wird nicht überzeugender, je öfter er wiederholt wird.

Das gesamte Altpaläolithikum wird – sei es gewollt oder nicht – als ein friedlicher „Einheitsbrei“ aus Gotteserkenntnis und Meditation dargestellt. Dabei wird indirekt die These aufgestellt, dass Sprache nach der Gotteserkenntnis entstanden sei. Die komplette jungpaläolithische Kunst wird allein auf Dankbarkeit gegenüber Gott reduziert. Es gibt viele und durch ethnologische Beobachtungen nachvollziehbare dargelegte Theorien über jungpaläolithische Kunst. Unter anderem auch Schamanismus. Müller-Karpe behauptet, dass diese Theorie durch ethnologische Forschungen widerlegt worden sei, gibt allerdings keine Literatur dazu an.

Studierende der Prähistorischen Archäologie sollten dieses Buch lesen, wenn sie sich mit Religiosität im Paläolithikum auseinandersetzen. Es bietet viele Anlässe zur Diskussion und sollte nicht ignoriert werden. Müller-Karpe legt ein interessantes aber auch provokantes Buch vor.


Zitierte Literatur:
Winfried Henke – Hartmut Rothe, Stammesgeschichte des Menschen (Berlin – Heidelberg 1999) 75-85
Christoph Wulf, Anthropologie (Köln 2009)27-53
Friedemann Schrenk, Die Frühzeit des Menschen (München 2003)
Richard G. Klein, The human career (London – Chicago 2009) 1-19

Details

Umfang: 160 Seiten

ISBN: 978-3-86744-153-7

Preis: 16,90 €

Buch Kauflink: Erwachen in der Steinzeit

Datum der Rezension: 30.09.2010

Rezensent: Jan

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