Kunst als Selbstzweck

Ausschnitt aus den Höhlenmalereien von Lasceaux. Foto von Prof. Saxx/Wikimedia.commons

Ein evolutionistisches Kunstverständnis

Sir John Lubbock
Sir John Lubbock (1834-1913). Popular Science Monthly 21 (1882).
Gabriel de Mortillet
Gabriel de Mortillet (1821-1898). Quelle: wikimedia.commons.

Nach der Entdeckung der prähistorischen Kunst und der Anerkennung ihres hohen Alters, gingen die Ansichten über ihre Bedeutung und darüber, was sie über den jungpaläolithischen Menschen und dessen Handlungspotential zu sagen vermochten, auseinander.

Bis in die 1890er Jahre hielt man die Kunstobjekte aus dem Magdalénien für künstlerische Ausdrücke von talentierten Menschen. Sie wurden aus einer handwerklichen Sicht beurteilt und galten als künstlerisch-ästhetische Produkte: eine Kunst um der Kunst willen. Kunst sei produziert worden, weil man es konnte und die Zeit dazu hatte. Zeitgenössische Lebensbilder für das Jungpaläolithikum zeigen ausschließlich männliche Künstler. Das Handlungspotential von Frauen wurde geringer als jenes der Männer eingeschätzt. Den Jungpaläolithikern wurde die Fähigkeit abgesprochen, komplexe Gedanken und Systeme entwickeln zu können.

Gabriel de Mortillet und John Lubbock betrachteten nicht nur die Chronologie der Altsteinzeit auf eine evolutionistische Weise, sondern auch das Leben und die Mentalität des Menschen. Stets habe sich der Mensch darin geübt, seine Lebensumstände zu verbessern. In dem gleichen Maße habe sich sein Verstand entwickelt. Durch diesen Wandel seines Denkvermögens sei er dazu in der Lage gewesen, Innovationen zu leisten. Man ging von einer Parallelentwicklung auf der geistigen und kulturellen Ebene aus. D.h. die ersten Menschen verfügten über primitive Werkzeuge und über einen primitiven Verstand.

 

Für Lubbock waren Jungpaläolithiker keine „edlen Wilden“, sondern triebgesteuerte Sklaven ihrer primitivsten Bedürfnisse. Handlungen seien von Naturdeterminismen bestimmt worden. Mortillet betrachtete den magdalénienzeitlichen Menschen als einen dauerhaft hungernden Jäger, der stets auf der Jagd nach Rentieren gewesen sei. Abstrakte und religiöse Gedanken traute er jungpaläolithischen Menschen nicht zu. Ein Indiz für Religiosität seien Bestattungen. Derartige Befunde waren zu Lubbocks und Mortillets Zeiten für das Jungpaläolithikum jedoch nicht bekannt. Zwischen 1860 und 1875 wurden bei Aurignac von Édouard Lartet und Henry Christy, bei Cro-Magnon von Louis Lartet und von Émile Rivière bei Bouaoussé-Roussé Skelette von Menschen gefunden.

Die Auffindungskontexte deuteten auf Bestattungen hin, allerdings konnte dies wegen stratigraphischer Unsicherheiten nicht bewiesen werden. Mortillet blieb bei seiner evolutionistischen Vorstellung: „L’homme quaternaire était donc complètement dépourvu du sentiment de la religiosité“ (Mortillet 1883: 476).

Primitive Kunst in der Eiszeit?

Die Interpretation von Kunst als ästhetischer Selbstzweck blieb bis in die 1890er Jahre bestehen. Gelegentlich wird sie auch heute noch vertreten. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein Wandel in der allgemeinen Kunsttheorie. Kunst wurde als Informationsträger betrachtet und die Beurteilung der Ästhetik rückte in den Hintergrund. Ausschlaggebend hierfür waren ethnologische Beobachtungen, die einen etwas weniger rassistischen Hintergrund hatten. Dennoch beharrten einige Archäologen auf der These, dass paläolithische Kunst frei von religiösen Absichten erschaffen worden sei.

Dennoch bemühten sich Archäologen wie Moritz Hoernes oder Max Verworn weiterhin um eine stilistisch-ästhetische Deutung. Anhand von ausgewählten Höhlenmalereien versuchte Verworn Rückschlüsse auf die Intelligenz und Psyche der paläolithischen Kunstschaffenden zu ziehen. Dabei projizierte er eine rassistische und politische Vorstellung von rezenten Jägern und Sammlern in die Vergangenheit. „Buschmänner“ aus Afrika – wie etwa die „Hottentotten“ – identifizierte er unterschwellig als Überbleibsel aus der Steinzeit. Er ging also davon aus, dass es Menschengruppen gäbe, die tatsächlich in der Steinzeit leben würden. Mittels dieser Analogie implizierte er eine direkte Abstammung der „Hottentotten“ von steinzeitlichen Jägern und Sammlern. Zusätzlich versuchte er ein evolutionistisches Weltbild aufrecht zu erhalten, in dem Europäer anderen Menschen übergeordnet werden. Hören wir uns seine Gedanken einmal im Wortlaut an:

 

"Dem paläolithischen Jäger schwebte das Erinnerungsbild seines Jagderfolges lebhaft vor Augen. Dasselbe recht oft wieder wachzurufen, machte ihm
Freude. So spielte er gern in Gedanken mit der Erinnerung an das stattliche Tier, das er durch Gewandtheit und List überwand und mit den Seinen verzehrte. So versetzte er sich lebhaft in die Situation zurück, indem er das frische Erinnerungsbild des Tieres, wie es ihm vorschwebte, in ein Knochen- oder Schieferstück ritzte oder in die Wand seiner Schutzhöhle kratzte, denn wie jeder primitive Mensch auf dieser Stufe, wie jeder Buschmann oder Hottentott, war der paläolithische Jäger faul, wenn er sein Nahrungsbedürfnis gestillt hatte, und beschäftigte sich an seinem Lagerfeuer nur mit Dingen, die seinem primitivem Geiste Vergnügen machten. Die Kunst auf dieser Stufe zeigt uns, wie der Anfang aller Kunst nur dem Bedürfnis entspringt, mit angenehmen Empfindungen und Vorstellungen zu spielen. In diesem Sinne ist es in der Tat das Schönheitsmoment in seiner primitivsten Form, das ihr ursprünglich zugrunde liegt. Man produziert und will nur reproduzieren, was einem Freude macht. Das ist natürlich das, woran das ganze Interesse des Lebens hängt: das reale Objekt der Jagd.
" (Verworn 1917: 40f.)

 

Die Darstellungen sollten dem Jäger als Erinnerung an seinen Jagderfolg dienen. Durch die Höhlenmalerei habe man sich die "Freizeit" vertreiben und seinen kindlichen Neigungen zum Malen hingegeben. Mit den Darstellungen habe man die "Wohnräume" innerhalb der Höhle verschönern wollen. Der Anblick gemalter Jagdbeute sollte eine „primitive“ Freude bereiten. Hinsichtlich des Handlungspotentials wird traf er keine geschlechtsspezifische Aussage. Wir dürfen aber davon ausgehen, dass er wie auch seine Kollegen grundsätzlich Männer als Urheber annahm. Die Kunst könnte nach Verworn von jedem Gruppenmitglied stammen und allen zugänglich gewesen sein. Eine soziale Stratifizierung bezüglich der Schöpfer und Betrachter nahm er nicht vor.

Gab es eine Kunst um der Kunst Willen?

Dass die Darstellungen überhaupt aus Höhlen stammen und dort zum Teil an schwer zugänglichen Plätzen angebracht wurden, berücksichtigten Verworn und andere Anhänger dieser Theorie in ihren Überlegungen gar nicht. Ferner wurden Höhlen auch nicht als Wohnplätze benutzt, in die man sich nach einer erfolgreichen Jagd zurückzog. Das Augenmerk konzentrierte sich vielmehr auf oberflächliche stilistische Untersuchungen von einzelnen Tierdarstellungen. Der eigentliche Kontext blieb völlig außen vor. Damit ist diese Theorie von Anfang an in gewisser Weise zum Scheitern verurteilt gewesen.

Mit seinen Ausführungen ist Verworn nicht weit über die Lebensbilder von Lubbock und Mortillet hinausgekommen. Die Ästhetik nimmt in seiner Interpretation eine zentrale Stellung ein. Bei genauerer Betrachtung seiner Ausführungen kommt man zu dem Schluss, dass von den Anhängern dieser Theorie eher Behauptungen als nachvollziehbare Argumente vorgelegt wurden. Der Vergleich von Kinderzeichnungen und Wandmalereien impliziert, dass jungpaläolithische Menschen die kognitiven Fähigkeiten von Kleinkindern besitzen und dass die geistige Entwicklung heutiger Kinder die Entwicklung des Menschen vom Altpaläolithikum bis in die Gegenwart widerspiegelt. Daraus wird deutlich, dass Max Verworn seinen Überlegungen zur Intelligenz und Kognition jungpaläolithischer Menschen einen evolutionistischen Denkansatz zugrunde gelegt hat. Solche Vergleiche wie wir sie bei Max Verworn vorfinden, waren zu seiner Zeit durchaus üblich. Aus heutiger Sicht sind sie allerdings mit großer Vorsicht zu betrachten, weil sie viele Sachverhalte vereinfachen und so mit den gegenwärtigen wissenschaftlichen Standards nicht mithalten können. 

Kunst Selbstzweck
Schematische Grafik zur Kunst-als-Selbstzweck-Deutung von Höhlenmalerei im Jungpaläolithikum © Jan Miera 2012.

Verwendete Literatur

Autor Titel Seite
Manfred K. H. Eggert Das Materielle und das Immaterielle: Über archäologische Erkenntnis. In: U. Veit u.a. (Hrsg.), Spuren und Botschaften 423-461
Peter Ucko, Andrée Rosenfeld Felsbildkunst im Paläolithikum 117-123, 165-174
Michel Lorblanchet Höhlenmalerei: Ein Handbuch 75-93
Ernest A. Parkyn An introduction to the study of prehistoric art (New York 1915)  
Eduardo Palacio-Pérez Cave art and the theory of art. Oxford journal of archaeology 29, 2010 1-14
Max Verworn Zur Psychologie der primitiven Kunst (Jena 1917) -

Wir betreiben praehistorische-archaeologie.de seit über 10 Jahren in unserer Freizeit. Dazu bieten wir kostenlose Inhalte, die ohne Werbung frei zugänglich sind.

Wenn du unsere Arbeit unterstützen möchtest klicke hier