Gravettien

Terminologie und Leitformen

Das Gravettien datiert nach den aktuellen Erkenntnissen in die Zeit zwischen 28.000 bis 22.000 vor heute. Der Name dieses Zeitabschnittes geht auf den eponymen Fundplatz La Gravette aus dem französischen Départment Dordogne zurück. Im Gegensatz zu den meisten ur- und frühgeschichtlichen Stufen-Bezeichnungen wurde dieser von einer Archäologin, nämlich Prof. Dorothy Garrod (1892-1967), vorgeschlagen. Sie war die erste Professorin an der University of Cambridge.

Das Gravettien wird aber nicht überall in Europa als Gravettien bezeichnet. So wird es in Südwestfrankreich als Périgordien, in Niederösterreich und Mähren als Pavlovien (nach Pavlov, Mähren) und in Russland am Oberlauf des Don nördlich des Schwarzen Meeres als Kostienkien (nach der Fundstelle Kostienki) bezeichnet. Leitfossilien der Steinindustrie sind Formen mit einer abgeflachten Basis, die eponymen nadelförmigen Gravettespitzen sowie Kerbspitzen, welche beide als Pfeilspitzen gedeutet werden. Gravettespitzen sind lange schmale Klingen mit einem geraden oder nur sehr leicht konvexen Rücken. Sowohl die Basis als auch die Spitzenregion können auf der ventralen Seite durch Retuschen verdünnt sein. Manchmal ist auch die Gegenkante retuschiert. Weitere markante Artefakte sind die sogenannten Mikrogravettespitzen, die Font-Robert-Spitzen und die Doppelspitzen. Bei fast allen gefundenen Artefakten sind die Kanten durchgängig retuschiert.

Gravettespitze
Schematische Zeichnung einer Gravettespitze, © Jan Miera 2010.

Gemeinschaftliches Leben

Dolni Vêstonice
Ein geschnitztes "Gesicht" aus Dolni Vêstonice, Zeichnung © Jan Miera 2011.

Gravettienzeitliche Menschen bekleideten sich nachweislich mit Schmuck. Sie legten also einen gewissen Wert auf ihre äußere Erscheinung. Das Leben drehte sich nicht mehr einzig und allein um das „Überleben“. Schmuck und Bestattungen aus dem Gravettien bekräftigen den Eindruck, dass das soziale Miteinander den Menschen wichtig war. Tote wurden nicht liegen gelassen oder „entsorgt“, sondern mit Beigaben begraben.

 

Erstmals sind für das Paläolithikum Befunde von Behausungen nachweisbar (z.B. Kostienki). Es zeigt sich deutlich, wie sich das Leben der Menschen mehr und mehr im Jungpaläolithikum veränderte. Man diskutiert sogar, ob es nicht schon im Gravettien Pfeil und Bogen zum Jagen gegeben haben könnte, offiziell gibt es diese Waffe aber frühestens ab dem Endpaläolithikum.

Bestattungen im Gravettien

Die Durchführung von reichen zeremoniellen Bestattungen sowie Ockerstreuungen in Gräbern charakterisieren das Gravettien. Zu den imposantesten und aufwendigsten Beisetzungen sicherlich die von Sunghir 1 (Russland) und der sogenannte „Il Principe“ der italienischen Höhle von Arene Candide. Während es für das Mittelpaläolithikum und den Übergang zum Jungpaläolithikum keine Hinweise auf Mehrfachbestattungen gibt, ist diese Form der Beisetzung im Gravettien ausgesprochen häufig. Doppelbestattungen sind bei Sunghir, der Grotta delle Veneri und der Grotte des Enfants bekannt. Zu den Dreifachbestattungen gehören zum Beispiel Individuum 13-15 von Dolní Věstonice und Individuum 2-4 von Barma Grande.

 

Zilhão und Trinkaus sind in einer Studie zu paläolithischen Bestattungen zu dem Ergebnis gekommen, dass Gravettien Jugendliche in Bestattungen anders als Erwachsene behandelt wurden. Für diesen Zeitraum konnte herausgestellt werden, dass das Geschlecht und das Alter der verstorbenen Individuen durchaus einen Einfluss auf deren Beisetzung und Grabgestaltung hatten. Zum Beispiel gibt es nur wenige Einzelbestattungen weiblicher Individuen.

 

Das Doppelbegräbnis von Sunghir ist das wohl spektakulärste Beispiel für Bestattungen in der Steinzeit. Ein Junge und ein Mädchen wurden Kopf an Kopf in einen langen, schmalen, flachen Grab niedergelegt, mit rotem Ocker bedeckt und mit außergewöhnlich reichen und einzigartigen Grabbeigaben ausgestattet. Dazu gehören Tausende von durchlochten Perlen aus Elfenbein, die wahrscheinlich auf Kappen und Kleidung genäht wurden, hunderte von perforierten Polarfuchszähnen, scheibenförmigen Anhänger, Tierschnitzereien aus Elfenbein und lange Speere aus dem Stoßzahn eines Mammut. Einer davon war 2,4 m lang. Bei einer Untersuchung der Elfenbeinperlen wurde festgestellt, dass diese rund ein Drittel kleiner waren als diejenigen des erwachsenen Mannes (Sunghir 1). D.h. diese Perlen wurden speziell für die beiden Kinder hergestellt. Der Zeitaufwand zur Herstellung der Perlen war enorm: experimentelle Versuche benötigten für eine Perle mehr als eine Stunde. Jedes der beiden Kinder hatte mehr als 5000 Perlen.

Frauenstatuetten

Auch in der Kunst steht der gravettienzeitliche Mensch seinen Vorfahren aus dem vorausgegangenen Aurignacien in nichts nach. Frauenstatuetten gelten als Leitfossil dieser Zeit. Das große Gebiet, in dem diese Figurinen gefunden wurden, wird daher als „Venushorizont“ bezeichnet. Zu den allseits bekannten Statuetten zählt jene aus Willendorf. Männer in Statuettenform gibt es nur sehr wenige (z.B. Brno, Mähren). Ob man daraus schließen kann, die Kunst eine männliche Domäne war, ist dennoch gewagt und müsste vorsichtig diskutiert werden. Typisch für das Pavlovien sind Tierstatuetten aus gebranntem Ton, die zu hunderten gefunden wurden.

Abstrakte Frauenstatuetten von Unterwisternitz
Zwei abstrakte Frauenstatuetten von Unterwisternitz (Dolni Vêstonice), Zeichnung © Jan Miera 2011.
Rote von Mauern
Die "Rote von Mauern". Zeichnung © Jan Miera 2014.

Höhlenmalerei

Wie im Aurignacien gibt es Höhlenkunst. Zu den wichtigsten Höhlenmalereien gehören jene aus Cosquer (27 110 +/- 390 BP), Gargas (26.000 BP), Cougnac, Gravierungen aus Cussac (25.000 BP) sowie das Lachs-Flachrelief aus dem Abri du Poisson und die Pferde aus Pech-Merle. Zu den häufigsten Darstellungen gehören also Tiere. Es wurden außerdem Negative und Positive von Handdarstellungen gefunden.

Die Charakteristika der frühen Kunst aus dem Aurignacien und Gravettien sind folgende: Abbildungen werden meist im Profil gezeigt, die Konturen werden klar hervorgehoben, die Körperform, die Haltung und die Bewegungen werden naturalistisch umgesetzt. Beine von Tieren werden nun optisch korrekt dargestellt, nachdem zuvor nur die zwei dem Betrachter zugewandten Beine bzw. alle vier aneinander gereiht gezeigt wurden.

Verwendete Literatur

Autor Titel Seite
Schnurbein Atlas der Vorgeschichte 24
Fansa Wohin die Toten gehen 13-22, 42
Formicola From the Sunghir Children to the Romito Dwarf Aspects of the Upper Paleolithic Funerary Landscape. Current Anthropology 48/3, 2007 446-453.
Müller-Karpe Handbuch der Vorgeschichte. I 71, 73, 80-82, 86, 157, 200, 204f., 207, 216-218, 220
Müller-Karpe Grundzüge früher Menschheitsgeschichte, 5 Bde. I 13, 37, 39, 50, 61
Badisches Landesmuseum Ur- und Frühgeschichte 23-27
Hahn Erkennen und Bestimmen von Stein- und Knochenartefakten. Einführung in die Artefaktmorphologie. ( = Archaeologica Venatoria, Bd. 10) (Archaeologica Venatoria) 184-186, 190f., 194-197
Eggert / Samida Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie. UTB basics 158-166
Eggers Einführung in die Vorgeschichte: Mit einem Nachwort von Claudia Theune, einem aktualisierten Literaturverzeichnis sowie einem Verzeichnis der Schriften von Hans Jürgen Eggers 70
Zilhao/Trinkaus Social implications. In: Portrait of the Artist As a Child: The Gravettian Human Skeleton From... (Trabalhos De Arqueologia, 22) 519-541.

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