Kreative Neandertaler?

Im Zentrum der Paläoanthropologie und Archäologie steht der Mensch. Ihm und seinem geistigen wie auch materiellem Schaffen werden sämtliche Forschungen gewidmet. Je weiter man in die Vergangenheit vordringt, desto existentieller werden Fragestellungen. Was ist der Mensch? Was ist überhaupt "menschliches" Verhalten und was noch nicht? In unserem Stammbaum gibt es eine Vielzahl an Vor- und Urmenschen, die wir aufgrund ihrer Morphologie unterscheiden können. Kann man aber ebenso nachweisen, dass diese unterschiedlich die Welt um sich herum wahrgenommen haben?

 

Neandertaler lebten knapp 300.000 Jahre in Europa. Die letzten 10.000 Jahre lebten sie und der aus Afrika gekommene Homo sapiens nebeneinander auf dem Kontinent. Sehr wahrscheinlich begegneten sich beide schon früher in der Levante. Haben Neandertaler ihre Umwelt anders wahrgenommen als der Homo sapiens und wenn ja, kann man hieraus Rückschlüsse auf das Verschwinden des Neandertalers ziehen?

 

Die Frage, ob Neandertaler zu einem symbolischen Denken fähig gewesen sind, reicht bis zur die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Sie wurde erstmals aufgeworfen, als man sich mit den fossilen Menschenresten aus dem Neandert[h]al beschäftigte. Sie prägt bis heute die Erforschung des Neandertalers. Die Bewertung des Homo neanderthalensis stand und fiel mit den Argumenten für oder gegen einen Symbolismus.

Der Dumme mit dem Knüppel - Eine evolutionistische Sicht

William King
William King (1768-1852). Quelle: Wikimedia.commons
Feldhofer Grotte
Portrait des Neandertalers aus der Feldhofer Grotte (Schaaffhausen 1888).
Neandertaler-Rekonstruktion
Rekonstruktion eines Neandertalers aus Maclean, A manual of the antiquity of man (1880).

Die Knochen aus der Kleinen Feldhofer Grotte wichen so prägnant von denen rezenter moderner Menschen ab, dass man sie einer neuen Menschenform zuschrieb.

Die meisten Behauptungen über die geistigen Fähigkeiten des Homo neanderthalensis wurden aus der Form seines Schädels abgelesen, zumindest glaubte man dies machen zu können. Weil jeder Anthropologe ein anderes Messsystem verwendete, wurden binnen kurzer Zeit abweichende Ergebnisse ausgemessen und die verschiedensten Theorien über die Menschenreste aus der Feldhofer Grotte geäußert. Die Schädelforschung (Phrenologie) war im 19. Jahrhundert sehr populär und wurde bei jedem erdenklichen Problem herangezogen, unter anderem auch zur Kategorisierung von Menschen. Schließlich mündete die Schädelforschung während des 20. Jahrhunderts in einer Rassenkunde, mit der man Menschen einen Wert beimessen wollte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ließ man von derartigen Rassentheorien ab.

 

William King (1768-1852) kam nach einer Betrachtung des Schädels zu dem folgenden Schluss: „ [...] it presents only an approximate resemblance to the cranium of man, that it more closely conforms to the brain-case of the Chimpanzee, and, moreover, assuming, as we must, that the simial faculties are unimprovable – incapable of moral and theositic conceptions – there seems no reason to believe otherwise than that similar darkness characterized the being to which the fossil belonged.“ (W. King 1864, 96)

 

Schließlich definierte er aufgrund der als sonderbar empfundenen Form der Knochen den ersten fossilen Menschen: Homo neanderthalensis king. Dabei stand von Beginn an fest, dass dies ein völlig anderer Mensch gewesen sein muss, der sich von heutigen Menschen durch ein Fehlen moralischer und religiöser Vorstellungen unterscheiden sollte – allein wegen der Schädelform. Auf theoretischer Ebene sollte diese Annahme durch die Evolutionstheorie unterstützt werden. Man ging davon aus, dass Evolution ein Prozess ist, bei dem sich alles von einem primitiven Ausgangspunkt zum einem komplexen gegenwärtigen Organismus entwickelt. Der Schädel war sehr alt, er sah komisch aus und hatte angeblich schimpansenähnliche Züge, ergo konnte das kein geistig befähigter Mensch gewesen sein, wenn man überhaupt von Mensch reden konnte. Damit legte King den Grundstein dafür, dass bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die geistigen Fähigkeiten des Neandertalers immer wieder in Frage gestellt wurden. Das Bild des dummen Moustérienmenschen wurde in regelmäßigen Zyklen aufgegriffen und erneuert.

 

Eine Fehlinterpretation pathologischer Veränderungen an dem Skelett eines alten Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints führte dazu, dass Marcellin Boule (1861-1942) diese These nachhaltig bekräftigte.  Gesichtsrekonstruktionen und Lebensbilder setzten diese Vorstellung sehr plakativ um und verbreiteten in der Öffentlichkeit das Bild des geistig niederen Urmenschen. Die Grabungen von Dragutin Gorjanovic-Kramberger beim Abri von Krapina (Kroatien) brachten um 1900 mehrere hundert Knochenfragmente zutage, die Zerlegungsspuren aufwiesen und als Beweis für Kannibalismus herangezogen wurden. Nur primitiven „Wilden“ traute man derartigen Handlungen zu.

Zur selben Zeit wurden reich ausgestatte jungpaläolithische Bestattungen, Höhlenmalereien und Venusstatuetten ausgegraben, die allein dem modernen Menschen zugeschrieben werden konnten. Während man für die Cro-Magnon-Menschen stets neue Kulturindizien entdeckte, gingen die Neandertaler leer aus. Sie wurden mehr und mehr zu einem Negativ unserer selbst stilisiert.

„Human revolution“ und "multiple species model“

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich diese Sichtweise auf den Neandertaler – wenn auch nur langsam. Anthropologische Untersuchungen der Skelettreste konnten aufzeigen, dass man sich in der Vergangenheit getäuscht und einige pathologische Befunde nicht als solche identifiziert hatte. Man konnte schließlich aus den erkannten Krankheiten schlussfolgern, dass Neandertaler durchaus fürsorgliche Menschen waren. Mit der Entdeckung von mittelpaläolithischen Bestattungen begann sich das Bild zu verändern. Man blieb bei deren Interpretation sehr vorsichtig, schließlich gab es erst eine handvoll und deren Aufmachung unterschied sich von jungpaläolithischen Beisetzungen mit Ockerstreuungen und zahlreichen Beigaben wie z.B. durchlochten Tierzähnen und fein gearbeiteten Steinartefakten.

 

Ende der 1980er Jahre ging man noch davon aus, dass der grundlegende Unterschied zwischen dem Mittel- und dem Jungpaläolithikum das Fehlen von Kunst und Symbolismus im Mittelpaläolithikum sei. In einem Aufsatz kamen Chase und Dibble zu dem Fazit: In many ways, the most striking difference between Middle and Upper Paleolithic is thecontrast between the rich and highly developed art found in the latter period and the almost complete lack of it in the former (Chase and Dibble 1987, 280). Aus dieser Annahme entstand der Gedanke, dass das Erschaffen von jungpaläolithischer Kunst als Revolution zu stehen sei. Die Verfechter dieser Theorie der „human revolution“ gingen davon aus, dass erst mit der Ankunft des anatomisch modernen Menschen in Europa vor ca. 40.000 Jahren modernes Verhalten („modern behavior“) entstanden sei. Die Befähigung zu abstraktem und symbolischen Denken sei etwas Typisches für den Homo sapiens und nicht dem Neandertaler zueigen gewesen. Erst die künstlerischen Hinterlassenschaften aus den jungpaläolithischen Châtelperronienschichten wurden als früheste Belege für ein abstraktes Denken beim Neandertaler gedeutet. Ein herausragenden Beispiel waren die Fundstücke aus der Grotte du Renne. Doch die Zweifel an den geistigen Fähigkeiten des Neandertalers blieben. So lautete etwa eine These: Sie hätten sich beim Homo sapiens abgeschaut, wie man künstlerische Artefakte herstellt und diese anschließend imitiert, ohne zu wissen, was sie eigentlich gerade herstellen.

 

Seit dem Jahr 2000 wird diese Vorstellung kritisiert. So gehen beispielsweise Sally McBrearty, Lawrence Barham oder Christopher Henshilwood davon aus, dass es sich weniger um eine schlagartige Revolution handelt, sondern vielmehr um das Ergebnis eines graduellen Prozesses, der weit in das Mittelpaläolithikum Afrikas zurückreicht. Francesco d’Errico und João Zilhão fügten dieser Annahme hinzu, dass die Ursprünge des modernen Verhaltens nicht allein beim anatomisch modernen Menschen zu suchen seien, sondern bei allen menschlichen Vorfahren. Weil diese Theorie alle Vertreter der Gattung Homo berücksichtigt, spricht man vom sogenannten „multiple species model“. Homo sapiens und Homo neanderthalensis hatten demnach beide dieselben kognitiven Grundlagen, die zu einer Entwicklung modernen Verhaltens führen konnten.

 

Als Konsequenz wurden viele mittelpaläolithische Fundplätze erneut nach Hinweisen auf abstraktes Denken und Symbolismus untersucht. Wir stellen Euch gleich einige interessante Funde vor.

Symbolismus: Probleme der Zuweisung

Bevor wir uns den Funden zuwenden, sollten wir uns einiger Probleme zu diesem Thema bewusst werden.

  1. Wir sind auf eine eindeutige Schichtzuweisung angewiesen. Die Umlegung des Artefaktes durch Tiere oder geologische Vorgänge muss ausgeschlossen werden können. Im Idealfall wird ein symbolisches Artefakt in einer Schicht gefunden, die typische Werkzeuge von Neandertalern aufzeigt.
  2. Die Bearbeitungsspuren der Artefakte müssen von Werkzeugen stammen, die nur Menschen verwendet haben können. Verbiss durch Tiere (z.B. Bären oder Hyänen) muss ausgeschossen werden können. Hyänen haben kräftige Kiefer und starke Mägen. Sie können Tiere nicht nur mit Haut und Haar verspeisen, sondern auch mit ihrem Knochen. Wenn ein Knochen in den Verdauungsprozess einer Hyäne gelangt ist, kann er derartig verformt werden, dass man von einer bewussten Modifikation ausgehen könnte. Biss- und Verdauungsspuren können durch mikroskopische Untersuchungen ausgeschlossen werden.
  3. Die Datierung muss über jeden Zweifel erhaben sein. Dies schließt zunächst eine eindeutige Schichtzuweisung ein. Wenn ein Artefakt ein entsprechend hohes Alter hat, müssen die Bearbeitungsspuren dieselbe Patina aufweisen wie die unbearbeiteten Oberflächen desselben Gegenstandes. Letzteres ist eine dünne Schicht, die sich über jahrtausende auf Artefakten bildet. Das umliegende Sediment, dessen chemische Zusammensetzung und ggf. Witterungsbedingungen bewirken die Ausbildung einer Patina.
  4. Selbst wenn diese Bedingungen erfüllt werden konnten, stehen wir immer noch vor einem sehr großen Problem: Was ist eigentlich ein Symbol und wie können wir symbolische Hinterlassenschaften von Menschen erkennen, die vor jahrtausenden lebten und ganz andere Vorstellungswelten hatten wie wir heute? Wenn die Meinungen nicht bereits in den drei vorgehenden Punkten auseinander gegangen sind, dann werden sie es spätestens hier.

Ein kreativer Verstand: Grübchen, Ritzungen und Zeichen

La Ferrassie
Zeichnung eines Knochen mit mehreren Gravuren (La Ferrassie). Das Stück ist ca. 11,5 cm lang und stammt aus dem Kontext einer Neandertaler-Bestattung.
Tata-Pebble
Der Tata-Pebble.

Diese Klasse von potentiellen Symbolen birgt eine Tücke: sie können durch eine Vielzahl an profanen Handlungen zustande kommen. Parallele Ritzungen und Gravuren auf Knochen können durch das Zerschneiden von Sehnen entstehen, d.h. im Zuge einer Zerlegung der Nahrung. Dasselbe ist zutreffend, wenn ein Knochen als Unterlage zum Schneiden benutzt wird. Nach einiger Zeit weist er zahlreiche Linien auf, die ebenfalls parallel zueinander seien können. Wer das nicht glaubt, kann ja mal seine eigenen heimischen Schneideunterlagen (z.B. Brotbretter) genauer betrachten. Letztlich können wir nicht direkt bestimmen, ob das Ritzen von Linien (parallel oder nicht) aus einer Laune heraus kam, oder ob damit ein abstrakter Gedanke ausgedrückt werden sollte. Wir wollen uns dennoch Funde ansehen, die dieser Kategorie zugeordnet werden.

 

Frankreich

Bei Champlost wurde ein Flintstück mit mehreren Liniengravuren gefunden. Die Ausgrabungen von Pourré-Comte förderten einen Pebble mit Gravuren zutage. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde bei Ausgrabungen dieses berühmten Fundplatzes La Ferassie in der Dordogne ein Kalksteinblock gefunden, auf dem sich Vertiefungen in Form von mehreren Grübchen befanden. Hinzu kam, dass dieser Block das Grab eines Kindes abdeckte. Diesem Fund haben sich bis heute keine weiteren Entdeckungen zugesellt. Ähnliche Befunde dagegen gibt es in Schichten des Aurignacien’s und dies ist eine Industrie, deren Urheber allein der Homo sapiens ist. Der Altfund von La Ferrassie ist damit nicht über das Kriterium der Schichtzuweisung erhaben. Es ist wahrscheinlich, dass die Ausgräber ihn in das Moustérien datierten, weil dessen Schichtzugehörigkeit nicht eindeutig bestimmbar war. Auf demselben Fundplatz wurde in einem gesicherten Grabkontext ein 11,5cm großes Knochenfragment mit mehreren parallelen Ritzungen ausgegraben und auf 72.000 B.P. datiert. Die Linien stammen definitiv nicht von der Zerteilung von Jagdbeute.

 

Bulgarien

Von Temnata kennen wir einen Schieferstein mit Gravuren, der auf 50.000 B.P. datiert werden konnte. Bei Bacho Kiro erregte ein 44.000 Jahre altes Knochenfragment mit einem Zick-Zack-Linienmuster während der Grabungen das Interesse der Archäologen.   

 

Ungarn

Tata: Der berühmte „Tata-Pebble“ ist eigentlich ein Fossil, auf dem zusätzlich zu einer natürlichen Linie eine zweite künstlich hinzugefügt wurde, sodass letztlich ein Kreuz sichtbar wurde. Von demselben Fundplatz stammt eine flache, ovale Lamelle eines Mammutzahns. Das polierte Objekt wies neben Abnutzungsspuren auch Farbreste auf. Es besteht die Möglichkeit, dass Neandertaler die Mammutzahnlamelle aus ästhetischen Gründen einfärbten. Der Fund ist 100.000 Jahre alt.

 

Ukraine

Bei Molodova I fielen im Fundmaterial die Scapula eines Mammuts und mehrere kleine Knochen auf, weil auf ihnen Linienmustern zu sehen waren.  

 

Bei Ausgrabungen von Prolom II auf der Krim wurden neben drei Knochenfragmenten auch Eckzähne vom Pferd gefunden, die mehrere eingeritzte Linien aufzeigten. Übertroffen wurden diese Funde von ca. 111 perforierten Phalangen von Saiga Antilopen. Die Urheberschaft für die durchlochten Knochen wird aber nicht dem Homo neanderthalensis zugeschrieben, sondern dem Verbiss von Raubtieren.

Dagegen konnten die 125.000 Jahre alten Knochen mit Ritzlinien aus dem deutschen Taubach eindeutig dem Neandertaler zugewiesen werden.

Verwendung von Farbpigmenten

Dass im Alt- und Mittelpaläolithikum Farben verwendet wurden, ist seit längerer Zeit bekannt. Im Gegensatz zu organischen Farben, die aus Pflanzen gewonnen werden können, erhalten sich Ockerpigmente bis heute. Das Spektrum ihrer Farbtöne reicht von Gelb, Orange, Braun, Rot bis nach Violett. Auch Schwarz ist eine der wenigen Farben, die sich auch bis heute erhalten konnte, selbst wenn sie auf organische Weise gewonnen wurde. Hierfür benutzte man verbranntes Holz oder reduzierend gebrannte Knochen. Anorganisch tritt Schwarz in Form von Graphit, Mangan oder Pyrit in archäologischen Kontexten auf. Wir können davon ausgehen, dass in der Steinzeit weitaus mehr mit Farben gearbeitet wurde als wir heute nachweisen können. Bisher wurden nur sehr wenige Funde von Ockern im Detail untrersucht. In den kommenden Jahren werden wir noch sehr viel über die Nutzung von Farbe beim Neandertaler lernen. Selbiges gilt auch für den Homo erectus! Auch dem europäischen Mittelpaläolithikum sind ca. 40 Fundplätze mit Farbstoffen bekannt. Es ist unbestreitbar, dass Neanderthaler ein Verständnis für Farben hatten.

Farben werden oft als Indiz für Symbolismus betrachtet. Man darf hier allerdings nicht vorschnell interpretieren, denn die Farbpigmente sind an sich kein Beweis für symbolisches Denken. Schwarze Pigmente könnten ebenso zur Herstellung von Klebern für Kompositwerkzeuge verwendet worden sein wie auch zur Bemalung des Körpers. Die Pigmente kennen wir aus den Schichten I und IV von Pech de l’Aze. In Schicht I wurden Pigmente mit deutlichen Kratzspuren gefunden. Weitere Funde von eindeutig benutzten Pigmentknollen sind bei La Ferrassie (Dép. Dordogne), La Chapelle-aux-Saints (Dép. Corrèze) und Molodova (Ukraine) gemacht worden. Die Pigmente stammen allesamt aus Kulturschichten, die vom Homo neanderthalensis produziert wurden. Kratzspuren und gefärbte Reibsteine belegen , dass gezielt Farbpulver gewonnen wurde. Leider wurden auf denselben Fundstellen keine bemalten Gegenstände oder Farbstreuungen sonstiger Art vorgefunden. Wenn Neandertaler hiermit etwas bemalt haben, ist es nicht erhalten geblieben oder wurde vom Fundplatz entfernt. Experimentelle Untersuchungen mit Mangan konnten allerdings Hinweise dafür geben, dass einige der Manganfunde von Pech de l’Aze an Haut gerieben wurden. Die ergebnisse dieser Untersuchung sprechen für eine Nutzung zur Körperbemalung.

 

Aus der rumänischen Höhle von Cioarei-Borosteni sind acht Stalagmiten mit Mulden bekannt, in denen rotfarbige Ockerreste gefunden wurden. Von den Ausgräbern werden sie als Container für die Pigmente gedeutet. Sie könnten allerdings auch durch natürliche Prozesse entstanden sein. Von demselben Fundplatz stammen weitere Ockerstücke mit Reibfacetten, sogenannte „ochre-crayons“. Wie der Name sagt, die Stücke könnten als Stifte zum Bemalen von Oberflächen gedient haben könnten.

Körperschmuck

Bis in die 1980er Jahre spielten Schmuckstücke in der archäologischen Forschung eine untergeordnete Rolle. Inzwischen werden sie aber als Beweise für symbolisches Denken anerkannt. Einige Archäologen betrachten sie sogar als Marker für ethnische Zugehörigkeiten, die eine soziale und persönliche Identität zum Ausdruck bringen sollten. Damit wird aus Schmuck eine Objektkategorie, mit der man sich äußerlich von anderen Menschen oder Gruppen abgrenzen kann. In den zwei letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung von Körperschmuck in der Archäologie zugenommen. In der englischsprachigen Forschung spricht man bereits von einer „archaeology of the body“.

 

Grotte du Renne (Frankreich): Der am häufigsten zitierte Nachweis für die Herstellung persönlicher Schmuckobjekte bei Neandertalern stammt aus dem Châtelperronien. Es handelt sich hier um ca. 30 Objekte, die zusammen mit einem isolierten Neandertalerzahn in den Châtelperronienschichten VIII, IX und X in der Grotte du Renne (Arcy-sur-Cure) gefunden wurden. Die Funde wurden von André Leroi-Gourhan zwischen 1948 und 1966 gemacht. Darunter befinden sich Artefakte, die als Ohrenschmuck (Gehänge) interpretiert wurden, durchbohrte und mit Rillen versehene Zähne, die man als Anhänger hätte tragen können. Heute wissen wir aber, dass die Funde aus gestörten Schichten stammen. Die absoluten Datierungen von Artefakten aus den vermeintlichen Châtelperronien-Schichten datieren in einen Zeitraum zwischen 21.000 und 49.000 vor heute! Zu einem vergleichbaren Ergebnis würde man nicht kommen, wenn alle Funde aus derselben Schicht stammen. In diesem Fall liegen stratigraphische Unsicherheiten vor. Damit ist das Kriterium der Schichtzugehörigkeit nicht erfüllt worden.

 

Auf anderen französischen Fundplätzen konnten dagegen Schmuckobjekte gefunden werden, die man sicher datieren konnte. So wurden Perlen von fossilen Turritella Temprina bei Caune de Belvis und Dentalien bei Saint-Césaire gefunden. In der Höhle von Quinçay kamen bei Ausgrabungen perforierte Eckzähne von Wolf, Fuchs und Rothirsch zutage. Sie datieren in das Châtelperronien. Allerdings sind die Grabungen nicht optimal dokumentiert worden.

Auch die Schichtzugehörigkeit des perforierten Fußknochens eines Rentiers und eines durchlochten Eckzahn eines Fuchses von La Quina konnte nicht eindeutig geklärt werden. Das Loch im Rentierknochen wird mehrheitlich durch Verbiss von Raubtieren erklärt. Dasselbe gilt für die Repolusthöhle in Österreich. Der dort gefundene perforierte Schneidezahn eines Wolfes und das gelochte Knochenfragment konnten nicht sicher den mittelpaläolithischen Schichten zugeschrieben werden.

Bocksteinschmiede (Deutschland): Der perforierte Mittelfußknochen eines Wolfes sowie ein gelochter Schwanenwirbel konnten sicher den Kulturschichten des Homo neanderthalensis zugeschrieben werden. Die Interpretation der beiden Fundstücke ging jedoch dahin, dass man sie als Kleidungsbestandteile deutete.  

 

Seit 2011 wurden mehrere Studien veröffentlicht, die Federschmuck bei Neandertalern belegen. In der Grotta di Fumane wurden von Marco Peresani und seinen Kollegen mehrere Vogelknochen mit Schnittspuren gefunden. Die Spuren deuten darauf hin, dass die Federn gezielt entfernt wurden. Bisher konnten die Archäologen und Archäozoologen beweisen, dass Lammergeier (Gypaetus barbatus), Rotfußfalke (Falco vespertinus) und Ringeltaube (Columba palumbus) ihr Federkleid hergeben mussten. Morin und Laroulandie ergänzten 2012 weitere Fundplätze mit vergleichbaren Funden. So wurden in Salzgitter-Lebenstadt unter anderem Enten- und Schwanenknochen mit eindeutigen Schnittmarken identifziert, die für eine Schlachtung nicht notwendig gewesen wären. Bisher stammen die meisten Funde dieser Art aus Franzkreich. Zu nennen wären hier die Fundorte: Lazaret CII, Pech de l’Azé und IV, Combe Grenal, Grotte de l’Hyène, Baume de Gigny, Les Fieux sowie Le Noisetier. Auch Finlayson und dessen Kollegen kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass Neandertaler in Gibraltar (Gorham’s Cave, Vanguard Cave und Ibex Cave) systematisch das Federkleid von Vögeln entfernten.

 

Zusammen mit seinen Kollegen untersuchte João Zilhão die beiden spanischen Fundplätze Cueva de los Aviones und Cueva Antón. Die Ausgrabungen fördern eine große Menge an durchlochten Muscheln (Acanthocardia tuberculata, Glycymeris insubrica und Spondylus gaederopus) zutage.

Musikinstrumente

Divje Babe
"Flöte" von Divje Babe. © Jan Miera 2012.

In den 1990er Jahren wurde eine vermeintliche Flöte aus einem Bärenknochen in einer slowenischen Höhle gefunden. Der Schaft des 11cm langen hohlen Knochens wies zwei Löcher auf. Auch wenn er an beiden Enden zerbrochen war, konnte man ein weiteres Loch erkennen. Gefunden wurde das Stück 1995 bei Divje Babe von Ivan Turk. Es konnte auf 43100 ± 700 B.P. datiert werden. In der Höhle wurden allerdings überwiegend mehr Tierknochen als mittelpaläolithische Artefakte gefunden. Etliche weitere Knochen wiesen Löcher auf, die auf Tierverbiss zurück zu führen sind. Diese Vorgang wird auch als Urheber für die Löcher in der "Flöte" angenommen. Sie wurde sehr wahrscheinlich nicht von Neandertalern, sondern von den Fleischfressern hergestellt, die an dem Knochen nagten.

 

Die "Flöte" ist in der archäologischen Forschung damit aber nicht untergegangen. Aktuelle Untersuchungen von C. Tuniz und weiteren Archäologen (u.a. Ivan Turk) konnten mittels einer Röntgen-Computertomographie erneut bestätigen, dass es ursprünglich vier Löcher in dem Knochen gab. Entgegen der Tierverbiss-Theorie sollen diese mit spitzen Stein- und Knochenartefakten hergestellt worden sein. Das gehe zumindest aus ihren neuen Ergebnissen hervor. Die meisten Oberflächenmodifikationen in der Nähe der Löcher, die zuvor als Auswirkungen des Tierverbisses interpretiert wurden, seien erst an das Objekt gelangt als dieses nicht mehr verwendet wurde. Darüber hinaus sei eine dünne Schicht in der Umgebung einer der Öffnungen vollständig entfernt worden, um eine flache Oberfläche zu erhalten, die das Durchlochen erleichtert haben soll. Die neuen Daten zeigen, dass ein Neandertaler Herstellung des Objekts nicht ausgeschlossen werden kann.

 

Für die angeblich von Neandertalern gefertigten Pfeifen von La Quina, Combe Grenal, Bocksteinschmiede sowie Prolom II konnte nachgewiesen werden, dass sie durch Magensäfte entstanden. D.h. die besagten Stücke haben an einem Verdauungsprozess teilgenommen, der zu einer partiellen Zersetzung führte.

Non-utilitarian objects

Gelegentlich werden Funde von Fossilien oder anderen rein praktisch nicht-nützlichen Objekten gemacht, die nicht auf natürlichem Weg an den Ort gelangt sein können, an dem sie vorgefunden wurden. In der Grotte de l’Hyène bei Arcy-sur-Cure wurden beispielsweise Fossilien einer kugelförmigen Koralle und einer spiralenartigen Schnecke in der Châtelperronien-Schicht gefunden. Hinzu kam neben einem Stückchen Pyrit ein fossiler Armfüßer, der über 30km in die Höhle transportiert wurde. Bei Merry-sur-Yonne fand man einen fossilen Seeigel und ein Stück Bleimineral (Galenit). Warum Neandertaler die Objekte mit sich trugen, wurde nicht geklärt. Man kann aber davon ausgehen, dass sie mit den Objekten eine Vorstellung verbanden, die sie dazu veranlasste, sie über weite Strecken mitzunehmen.

Ein spezieller Fall ist der ca. 100.000 Jahre alte Faustkeil von West Tofts, der bereits 1911 entdeckt wurde. In ihm befindet sich ein eingeschlossenes Fossil. Um die Muschel wurde herumgearbeitet, so dass sie nicht beschädigt wurde und letztlich mitten auf der Oberfläche zu sehen ist. Solche Kombinationen von non-utilitarian objects und praktischen Artefakten sind sehr rar.

Fazit

Rendall White hat mal geschrieben, dass Neandertaler Kunst nicht hergestellt haben, weil es wohlmöglich kein Teil ihrer Anpassungsstrategie gewesen sei. Sie empfanden es demnach nicht als sinnvoll, sich in ihrem Leben mit symbolischen Aspekten zu befassen.

 

Fest steht: Man kann heute nicht mehr behaupten, Neandertaler hätten keine abstrakten Gedanken formulieren können. Wir haben nur einen Teil dessen vorgestellt, was uns an symbolischen Artefakten hinterlassen wurde. Neandertaler verwendeten Pigmente, sammelten kuriose Fossilien und modifizierten Knochen mit Perforationen, Ritzungen oder Liniengravuren. Das taten sie, ohne zuvor auf den modernen Menschen getroffen zu sein. Aus diesen und weiteren Befunden können wir das Bild eines fürsorglichen, sozialen und körperbewussten Menschen entnehmen. In dem Moment, in dem der moderne Mensch in Europa eintraf, wurde das symbolische Inventar beider Menschengattungen umfangreicher. Statuetten und Darstellungen von Tieren können wir Neandertalern dennoch nicht nachweisen. Die kognitive Befähigung zu einem abstrakten Denken war vorhanden, sie wurde allerdings nicht so genutzt wie beim Homo sapiens. Tut das überhaupt etwas zur Sache? Sollen wir – oder können wir generell – einen primitiven von einem expressiven Symbolismus differenzieren, d.h. dürfen wir Symbole bewerten?  

Verwendete Literatur

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